piwik no script img

Archiv-Artikel

„Hinstellen und Kopfschuss“

Eine Ausstellung über die Verfolgung der Sinti und Roma ist in Hannover zu sehen. Die 70-jährige Charlotte Weiß erinnert sich an die Zeit im Konzentrationslager Auschwitz

„Acht Tage später war meine dreieinhalb-jährige Schwester an Typhus gestorben“

Charlotte Weiß war die Nummer 151. Die Nazis haben ihr die Zahl auf den Arm tätowiert, als sie im März 1943 im „Zigeunerfamilienlager“ ankam. Mit ihr wurden über 700 Sinti und Roma aus Niedersachsen nach Auschwitz deportiert. Das dokumentiert jetzt eine Ausstellung im Neuen Rathaus Hannover: „Aus Niedersachsen nach Auschwitz – Die Verfolgung der Sinti und Roma in der NS-Zeit“. Zeitzeugen erzählen in Videoaufnahmen von dem Geschehen, das an Hand von Schautafeln und Originalfotos verdeutlicht wird. Auf einem erkennt Charlotte Weiß ihren Vater. „Der in Uniform ist es, er war ja Soldat bei der Wehrmacht, bevor wir abgeholt wurden.“

Das Kind Charlotte war damals sieben Jahre alt. „Ich bin aus Minden deportiert worden, morgens um drei Uhr mit meiner Familie. Wir wurden dann mit der Bahn über Braunschweig nach Auschwitz transportiert“, berichtet die heute 70-Jährige. Als „dreistöckige Schweinebuchse“ beschreibt sie ihren Schlafplatz. „Da haben wir dagelegen, meine Mutter, mein Vater und meine drei Geschwister.“

Charlotte Weiß ist eine herzliche Frau mit einem harten Zug um den Mund. Ruhig und etwas distanziert erzählt sie weiter: „Acht Tage später war meine erste Schwester an Typhus gestorben, die war gerade mal dreieinhalb Jahre alt.“ Kurze Zeit später starb ihr Bruder ebenfalls an Typhus.

Im „Zigeunerfamilienlager“ Auschwitz waren fast die Hälfte der Gefangenen Kinder und Jugendliche. Der Lagerarzt Dr. Mengele führte grausame Rassenexperimente an ihnen durch. Weiß‘ zweite Schwester Maria war fünf Jahre alt, als sie von Mengele abgeholt wurde. „Drei Tage später bekam mein Vater die Information, dass seine Tochter an Lungenentzündung gestorben ist.“

„Mein Vater musste draußen in dem Matsch, in dem Schlamm arbeiten“, sagt Charlotte Weiß. „Zu essen gab es für vier Leute so ein Kommissbrot, und wer das ausgeteilt hat, der hat auch noch ein Stück behalten.“ Nach einem halben Jahr starb ihre Mutter „durch Schläge, durch Krankheit“.

Während der Registrierung im KZ Ravensbrück behauptete eine entfernte Tante: „Das ist meine Tochter.“ Das Kind Charlotte wurde somit nicht, wie andere Mädchen ohne Mütter, in die Gaskammern von Auschwitz zurückgeschickt. Sie war mit ihrem Vater für weitere Arbeitsdienste nach Ravensbrück transportiert worden, kurz bevor die SS das Familienlager Auschwitz am 2. August 1944 auflöste. Die SS ermordete alle Sinti und Roma, die noch in dem Lager waren.

Mit der Tante ist Charlotte Weiß dann über Mauthausen ins KZ Bergen-Belsen verschickt worden. Ihre Stimme zittert: „Dort mussten wir hart arbeiten: Steine schleppen.“ Die Tante hatte große Gräben auszuschachten. Beim Erzählen schluckt Weiß ihre Tränen hinunter. „Die wollten uns ja nur da hinstellen und einen Kopfschuss verpassen, dass wir da reinfallen in diese großen Massengräber.“

Dann ändert sich ihre Stimmung. „Eines morgens, ganz früh, bebte die Erde des Lagers, da kamen die Engländer und haben uns befreit.“ Der Vater überlebte ebenfalls – schwerkrank.

Charlotte Weiß konnte in Folge der Misshandlungen nur stark eingeschränkt einen Beruf ausüben. Ärzte bescheinigten ihr 80-prozentige Berufsunfähigkeit. Wie ie sie heute wieder in Minden lebt, dazu möchte sie nichts sagen. Mit resignierter Stimme ergänzt sie jedoch: „Als Haftentschädigung habe ich einmalig 1975 Euro erhalten.“ Meike Kloiber

bis 17. November, Neues Rathaus Hannover, Mo-Fr 9 bis 18 Uhr, Sa/So 10 bis 18 Uhr