: Der Wettstreit der Wortfechter
Ist das noch eine literarische Stilform oder ist es schon Sport? Ein Streifzug durch die widersprüchliche Welt des „Poetry Slam“
VON ANNA KISTNER
„Warum tragen Kinder am Klavier immer Seitenscheitel?“, fragte Gabriel Vetter. „Warum hat Slam Poetry so wenig Inhalt?“, fragte Lokalmatador Tobias Borke. „Warum buht das respektlose Publikum einen Leser von der Bühne?“, fragte sich Micha Ebeling – stürmte auf die Bühne und bezeichnete Borke als „arrogantes Arschloch“. Im folgenden Tumult drängt sich die Frage auf: Wo sind wir hier eigentlich? In einer Selbsthilfegruppe? Auf einem Popkonzert? Bei Boxern? Es ist eine Veranstaltung, die alle anderen Spektakel in sich vereint: der German International Poetry Slam 2004 in Stuttgart.
Poetry Slam, das ist kein harmloser Vorlesewettbewerb, sondern Wortgewalt, Körpereinsatz und Schlagfertigkeit – gebündelt in einem fünfminütigen Vortrag. Man hätte die seit 1997 jährlich stattfindende Veranstaltung auch „Deutsche Meisterschaft im Wortfechten“ nennen können. Aber wir sind hier ja nicht im Sportverein? Oder doch?
Was für den Boxer die Olympischen Spiele, ist für den Wortkämpfer der German International Poetry Slam. Auch der Slam-Poet muss sich sein Ticket zum wichtigsten Literaturwettstreit der Saison erst verdienen, indem er sich in seiner Heimatstadt qualifiziert. Als einer von 86 wortgewaltigen Gladiatoren wird er dann vor 700 Zuschauern im Theaterhaus Stuttgart in den Ring steigen. Hier zählt dann vor allem die Performance. Introvertiertheit auf der Bühne hat nur dann eine Chance, wenn sie Teil der Show ist. Schüchtern und ehrlich vorgetragene Stücke werden zwar in der Vorrunde mit einem anerkennenden Kopfnicken aufgenommen, aber Poesie alleine reicht nicht für einen Einzug ins Finale.
Stammeln und schreien
Der 21-jährige Gabriel Vetter aus Schaffhausen zeigt, wie’s geht: Die ersten Zeilen seines „Naturgedichts“ trägt er noch mit getragener Stimme vor. Dann aber steigert er sich in ein aggressives, furioses Finale und kommt erst zur Ruhe, als der Mikrofonständer am Boden und der Sieg in der Luft liegt. Das Publikum tobt, die Jury ist überzeugt. Ähnlich wie beim Kunstturnen müssen die zehn Juroren Noten zwischen Null und Neun vergeben. In die Wertung, die direkt nach dem Vortrag vorgenommen wird, fließen sowohl der künstlerische Wert (die A-Note) als auch die tatsächliche Ausführung (die B-Note) ein – vom gefühlvollen Flüstern bis zum rhythmischen Rap geht alles. Verboten sind Hilfsmittel, die vom gesprochenen Wort ablenken. Gabriel Vetter erhält die Traumpunktzahl 98 und ist in der Endrunde.
Durch spontane Kommentare, bissige Beschimpfungen oder aufmunternden Applaus können die Zuschauer den Vortrag des Lesers unterstützen oder torpedieren. Langweilige Kandidaten werden unter andauernden „Gähn“-Geräuschen von der Bühne gedrängt, wer unterhält, kann mit stehenden Ovationen rechnen. Somit wird das Publikum selbst zum Teilnehmer und fungiert nicht – wie bei normalen Lesungen – als distanzierter Beobachter. Kein Wunder, dass der National Poetry Slam ein immer größeres Publikum lockt. Wegen der großen Nachfrage wurde dieses Jahr erstmals ein Theaterhaus mit vier riesigen Sälen gebucht.
130 „Slamer“ aus allen Teilen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz waren angereist, um sich den begehrten Titel des „Slam Champion 2004“ zu erdichten. Der Champion steht nach drei Tagen und sechs Vorrunden fest. Alle Teilnehmer haben Talent, alle wollen sie gewinnen – oder wenigstens gehörigen Eindruck schinden. Der Berliner „Slamer“ Felix Römer, der für Freiburg startete, erklärt: „Das bloße Dabeisein ist mir zu wenig. Ich will Reaktionen im Publikum auslösen. Mit einem eigenen Text 500 Zuschauer zu fesseln, ist ein unheimlich erhebendes Gefühl.“ In der Vorrunde verpasste er nur äußerst knapp den Einzug ins Finale.
„Slamily“ statt „Family“
Zwar bezeichnet sich die Slam-Community gerne als große Familie, als so genannte „Slamily“, aber vor dem Finale herrschte hinter der Bühne Hektik und Nervosität. Gewinnen konnte man in Stuttgart zwar nur einen Lorbeerkranz (als Teamsieger) und eine hässliche Holzfigur (als Einzelgewinner), aber jedem „National Slam Champ“ winken Ruhm und Auftrittsangebote. Für viele bedeutet der Titel „Slam Champ“ auch das Ticket in eine höherrangige Kulturebene. Jan Off, der Sieger des 4. German International Poetry Slam im Jahre 2000, bringt gerade sein erstes Buch heraus, und auch Bas Böttcher, Sieger des Jahres 1997, tourt gerade mit seinem Debütroman „Megaherz“ quer durchs Land. Michael Lentz, der Sieger des 2. National Poetry Slam 1998 hat mittlerweile gar die Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises überzeugt.
Eine Ausnahme, denn als Teil der Spoken-Word-Bewegung lebt der Poetry Slam vom gesprochenen Vortrag. Sebastian Krämer, Sieger des Jahres 2001 und 2003, ist mittlerweile zum Kleinkunst-Bühnenstar avanciert. Auch der Tübinger Helge Thun lebt schon längst von seinen Auftritten als Improschauspieler, Comedy-Zauberer und bald sogar als Buchautor. Multitalente wie Thun scheinen wie geschaffen für die Slam-Bühne.
So verwischen zusehends aber auch die Grenzen zwischen Poesie, Pop und Performance. Poetry Slams haben den Underground gegen die Oberfläche eingetauscht, aus einem literarischen Format wird schleichend eine Comedy-Veranstaltung. Hier sprechen die Kampfnamen der Kandidaten oft für sich: „Graf H. H. von Hinten“, „Lasse Samström“ oder „Claastrophobie“ sind nur einige Beispiele. Aus inhaltlich tiefsinnigen Texten werden oft Sketche in Versform. Das Publikum springt von den Stühlen, erfahrene Slamer schlagen die Hände über dem Kopf zusammen.
Denn die Szene steht vor der Spaltung. Die eine Hälfte will zurück in den Keller, die andere treibt die Professionalisierung voran. In der Szene keimen spezialisierte Verlage wie der Konstanzer Sprechstation Verlag, der den „National Slam 2003“ auf DVD herausgebracht hat. Und Wolf Hogekamp und Bas Böttcher vom Berliner Spoken-Word-Slam versuchen sich mit der DVD „Poetry-Clips Vol. 1“ an einer Art „Best of“ aus Video-Clips.
An solche Blüten war noch nicht zu denken, als 1997 in Berlin der erste National Slam über die Bühne ging. Gerade mal fünfzehn Teilnehmer aus fünf Städten trafen sich in der Kreuzberger Bar „Ex ’n’ Pop“, um an einem einzigen Abend die Sieger zu ermitteln. Erster deutscher Champ wurde damals Bas Böttcher: „Damals ging es uns einfach darum, die Spoken-Word-Bewegung zu vernetzen.“
Rückkehr der Lesebühnen
Auch Johannes Finke, seit der ersten Stunde dabei und mittlerweile Gründer des Stuttgarter Lautsprecher Verlages erzählt: „Die Slam-Bewegung war insofern erfolgreich, als es die Spoken-Word-Bewegung vorangebracht hat. Überall in Deutschland gibt es Lesebühnen, und das ist toll. Andererseits ging auch viel von dem Charme und der Hitzigkeit der ersten Slams verloren mit der Zeit.“
Und tatsächlich dominierten im großen Stuttgarter Finale anfänglich die Geschichtenerzähler, Schöngeistiges gab’s nur am Rande. Micha Ebeling aus Berlin brüllte sich die Seele und das Wort „Ficken“ in allen Variationen aus dem Leibe, Sebastian Krämer versuchte es dieses Jahr mit „Pro und contra Augustine“ – vorgetragen mit der Schnelligkeit und Emotionslosigkeit einer Maschinenpistole. Die einzige Frau des Finales, Nora Gommriger, brachte mit ihrem Gedicht „Sag doch mal was“ etwas Ruhe in den Saal und Poesie in den Wettkampf. Die hielt aber nur bis zu den eingangs erwähnten Wortattacken und Tumulten. Das Rennen machte schließlich Gabriel Vetter, auf Schwyzerdütsch. Mit den „geheimen Wünschen“ seines Goldhamsters brachte er das Publikum zu Lachkrämpfen und seine Konkurrenten um den Sieg.
Die Zuschauer hatten es geschafft, die Veranstalter sowieso. Und Vetter lag geschafft am Boden. Drei Tage Dichterschlacht um die Publikumsgunst, drei Tage Nahkampf im Pointengraben. Die deutschen Feuilletons freilich lässt das alles ziemlich kalt – vielleicht sollte man nächstes Mal die Sportredakteure um Berichterstattung bitten?