: Tabubruch in Sachsen
Bei der Wahl zum Ministerpräsidenten erhält der Kandidat der NPD Stimmen aus dem demokratischen Lager. Die Rechtsextremen triumphieren
AUS DRESDEN MICHAEL BARTSCH
Auch beim zweiten Wahlgang änderte sich am Wahlergebnis und der Katerstimmung im gläsernen Plenarsaal des Sächsischen Landtages nichts. Wieder nur 62 Stimmen für Georg Milbradt, den Ministerpräsidenten-Kandidaten der neuen CDU-SPD-Koalition. Eine Stimme fehlte wie im ersten Wahlgang an der absoluten Mehrheit.
Im zweiten Anlauf genügte die einfache Mehrheit. Die schaffte Milbradt, immerhin, wie in der Lobby des Landtages schon gefrozzelt wurde. Dass aber Gegenkandidat Uwe Leichsenring von der NPD erneut zwei Stimmen mehr als die seiner 12-köpfigen Fraktion erhielt, ließ die Scherze bei den meisten Abgeordneten sehr knapp und trocken ausfallen. Mit starrem Blick und versteinerten Gesichtszügen nahm Georg Milbradt auf der Abgeordnetenbank beide Ergebnisse zur Kenntnis. Schwerfällig erhob er sich nach dem zweiten Wahlgang und schlurfte zum Rednerpult. „Ich nehme die Wahl an“, sagte er tonlos, und es klang schon fast wie eine Überraschung.
„Uns stehen noch schwierige Jahre bevor“, fügte er als einzigen Satz hinzu. Landtagspräsident Erich Iltgen (CDU) sagte sein Gratulationsverslein auf, kaum mehr als ein Pflichtbeifall von der CDU, Vereidigung, ein Blumenstrauß des Präsidenten. Die FDP kam mir ihren blau-gelben Blüten gar nicht mehr zum Zuge. Dann endlich ein müdes Lächeln des wiedergewählten Regierungschefs in die Kameras.
„Ein zweiter Wahlgang wäre eine Blamage“, hatte CDU-Fraktionsvorsitzender Fritz Hähle am Dienstag noch verkündet und sich optimistisch gezeigt. Auf eine Probeabstimmung hatte man verzichtet. Hähle schätzte seine seit je als unberechenbar geltende Fraktion in zweierlei Hinsicht offenbar falsch ein. Ein Denkzettel für Milbradt war nach dem 16-Prozent-Einbruch zur Landtagswahl bei der Ministerpräsidentenwahl erwartet worden. Kritik am Wahlkampf und am Führungsstil hatten in den letzten Wochen einige Kreisverbände erhoben. Die Regie des Sonderparteitages zur Absegnung des Koalitionsvertrages konnte die Palastrevolutionäre am vergangenen Sonnabend vorerst beruhigen. Dass die Koalition im Landtag gestern nur 62 ihrer rechnerischen Mehrheit von 68 Stimmen erhielt, überraschte dann doch.
Einen regelrechten Schock löste aber die Bekanntgabe aus, dass Uwe Leichsenring von der NPD zwei Stimmen aus dem „demokratischen Block“ erhalten haben musste. Als die Nationalisten vor zwei Wochen verkündeten, dass sie einen Gegenkandidaten aufstellen wollen, konnte sich die Landespressekonferenz das Lachen kaum noch verkneifen.
In der Sächsischen Schweiz wird Leichsenring freilich schon länger ernst genommen. Der Fahrlehrer aus Königstein ist der dienstälteste NPD-Kommunalpolitiker in Sachsen und auch überregional durch seine 16-Prozent-Wahlergebnisse bekannt geworden. In der auf den ersten Wahlgang folgenden Pause mischte sich nun die Betroffenheit über das Signal, das von diesem Wahlergebnis ausgeht, mit den Spekulationen über die beiden „U-Boote“. Thomas Gerlach, einer der SPD-Männer der ersten Stunde im sächsischen Parlament, schien regelrecht zur Toilette zu stürzen. „Ich habe in diesem Haus schon viel erlebt, aber heute dachte ich, ich bin im falschen Film!“ Wie Gerlach konnten auch CDU-Abgeordnete nicht begreifen, dass der Denkzettel für Milbradt in verantwortungslose Unterstützung der NPD münden könnte. Sachsens ehemaliger Ausländerbeauftragter Heiner Sandig (CDU), im neuen Landtag nicht mehr vertreten, fürchtete eine fatale Konstellation für den zweiten Wahlgang. „Wenn die NPD nun ihren Kandidaten zurückzieht, würde heute noch in allen Meldungen stehen: ‚Milbradt mit NPD-Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählt‘.“
Die NPD-Fraktion wählte einen anderen Schachzug und schickte im zweiten Wahlgang erneut Leichsenring ins Rennen. Die Wiederholung des Wahlergebnisses setzte dem unwürdigen Spektakel dann die Krone auf. „Das könnten auch zwei Provokateure von den PDS gewesen sein“, orakelte CDU-Schnellschütze Heinz Eggert, der frühere Innenminister. „Der will wohl von sich ablenken“, kam es von dort zurück. Um diesem Vorwurf zu begegnen, markierten alle PDS-Genossen im zweiten Wahlgang ihre Wahlzettel. Ihr parlamentarischer Geschäftsführer André Hahn verlangte deshalb eine Aufbewahrung der Zettel, um für mögliche Wahlanfechtungen gerüstet zu sein. Die anderen Oppositionsfraktionen wiesen jeden Verdacht von sich. „Bei uns macht das keiner“, versicherten FDP und Grüne übereinstimmend.
Bleibt vermutlich die CDU. Mehr als diesen Verdacht wollte NPD-Fraktionsgeschäftsführer Peter Marx aber auch nicht bestätigen. Man ahne die Personen, wolle aber derzeit nicht mehr sagen. Schriftlich reichte die NPD am Nachmittag das Angebot parlamentarischer Zusammenarbeit an „politisch heimatlos gewordene Abgeordnete“ nach. Zur kollektiven Gewissenserforschung kam die Unionsfraktion wegen der fortgesetzten Landtagssitzung gestern noch nicht. Begleitet wurde der Parlamentseklat von einem Streit um die Wahlzettel. Grüne und PDS hatten vergeblich verlangt, neben den Voten für die beiden Kandidaten und einer Enthaltungsoption auch die Möglichkeit einer klaren Gegenstimme zu schaffen. Das schien ihnen angesichts der Kandidaten wichtig. Mit unterschiedlichen Begründungen verhinderten dies CDU, SPD und NPD gemeinsam.