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Archiv-Artikel

„Die Arbeiter sterben uns weg“

Text und Fotos WOLFGANG B. KLEINER

Raymond Pia wirkt älter, als er ist. In seinen besten Jahren muss der 59-jährige Frührentner ein kräftiger Mann gewesen sein. Von 1968 bis 1996 arbeitete Pia für Frankreichts Atomtestbehörde CEP am „Point Zero“, dem Detonationsort auf Moruroa im Pazifik. Dabei bekam er fast alle Explosionen aus relativer Nähe mit. Seine Aufgabe war es, zusammen mit anderen den über 500 Meter tiefen Schacht zu bohren, die Bombe darin zu versenken und nach der Explosion die Überreste des Detonationszylinders aus der Tiefe zu bergen. „Es könnte gefährlich sein, haben die Vorgesetzten gesagt. Wir trugen aber nicht mal Schutzkleidung.“

Pia und seine Kollegen hantierten mit den hoch radioaktiv belasteten Teilen nur in T-Shirt und kurzer Hose. Im Dezember 2002 wurde ihm auf Tahiti ein großer Zeh amputiert – „angeblich nur Diabetes“. Im Mai diesen Jahres wurden seine Hoden entfernt. „Nichts Ernstes, nur ein kleiner Krebs“, zitiert er die Ärzte. Zur weiteren Behandlung ist er derzeit in Frankreich. „Alle meine Kollegen haben heute Krebs. Ich habe große Angst“, sagt Pia. Michel Brugière von der Organisation „Médecins du Monde“ hat ihn vor kurzem untersucht. Für den Arzt steht fest: klarer Fall von Strahlenkrankheit.

Vor zwei Jahren gründeten Atomtestopfer die Vereinigung „Moruroa e tatou“ (Wir sind Moruroa). Durch sie haben die Betroffenen heute eine Stimme, zuvor war es politisch und wegen der Schweigeklauseln in den Arbeitsverträgen tabu, in Französisch-Polynesien öffentlich über die Gefahren durch Atomversuche zu sprechen. Moruroa e tatou hat heute 3.359 Mitglieder, 70 Prozent von ihnen haben Krankheiten, die sie mit Verstrahlung in Verbindung bringen. „Der französische Staat soll endlich eingestehen, dass es bei den Atomtests Gesundheitsgefahren gab, und die volle Verantwortung dafür übernehmen“, meint Roland Oldham, der Vorsitzende von Moruroa e tatou. „Wir fordern kostenlose medizinische Behandlung, Entschädigungszahlungen für gesundheitliche Beinträchtigungen, Kinderlosigkeit und Arbeitsunfähigkeit, aber auch Pensionen für die Hinterbliebenen“, erklärt der 52-Jährige. „Außerdem soll Frankreich ein Gesetz wie in den USA beschließen, wonach 21 Krebsarten, die in Verbindung mit Atomexplosionen auftreten, als arbeitsbedingte Krankheiten anerkannt werden. Die Arbeiter sterben uns weg!“

Keinerlei Schutzkleidung

Oldham berichtet vom Fall einer Mitarbeiterin des Militärlabors in Mahina auf Tahiti. Sie musste mutmaßlich verstrahlte Fische und Korallen aus Moruroa zur Analyse vorbereiten. Heute hat sie Leukämie im Endstadium. Jüngst hat sie um ihre Entlassung aus dem Krankenhaus gebeten, um zu Hause zu sterben. 2002 starben 84 der damals 1.544 Vereinsmitglieder von Moruroa e tatou.

Für ihre Dokumentation „Moruroa and Us“ befragten die niederländischen Sozialwissenschaftler Pieter de Vries und Han Seur 737 ehemalige Mitarbeiter des Atomversuchsprogramms. Danach wussten 73 Prozent der Befragten bei ihrer Einstellung nicht, dass sie für ein Atomtestprogramm arbeiten sollten. Zehn Prozent der Neueingestellten waren erst 17 Jahre alt oder jünger. 41 Prozent gaben an, dass sie ihrer Meinung nach in kontaminierten Zonen arbeiten mussten, 14 Prozent, dass sie mit kontaminiertem Material umgehen mussten. Manchmal war keine Schutzkleidung vorhanden oder sie wurde abgelegt, weil sie in dem heißen Klima die Arbeit behinderte. Auch die oft wechselnden kontaminierten Zonen führten im Laufe der Zeit dazu, dass Sperrzonen nicht mehr ernst genommen wurden.

Schweigeverpflichtung

Auch die Vorschriften wurden von den Polynesiern oft nicht befolgt. So war es etwa verboten, in der Lagune von Moruroa zu fischen, aber 55 Prozent der Arbeiter gaben an, Fisch von dort gegessen zu haben. Fischen und Fisch essen ist ein wichtiger Aspekt der polynesischen Kultur, in den französischen Kantinen jedoch gab es keinen frischen Fisch. So wurden immer wieder Fischesser mit Vergiftungen ins Krankenhaus eingeliefert, der Fischkonsum war also kein Geheimnis. Das CEP hat die auf dem Papier vorhandenen Sicherheitsvorschriften in der Praxis nicht konsequent überwacht. Viele ehemalige Arbeiter beschuldigen heute das CEP, sie nicht richtig über die Gefahren informiert und eine Atmosphäre des Schweigens geschaffen zu haben, in der für Fragen und Zweifel kein Platz war.

Es ist wohl ein zynischer Zufall, dass Moruroa in der Sprache der Einheimischen „Großes Geheimnis“ bedeutet. Viele Arbeitsverträge enthielten eine Schweigeverpflichtung mit der Androhung der Entlassung. Und ein ausgefeiltes Prämiensystem für gefährliche Arbeiten unterband die Kommunikation der Arbeiter untereinander. Bei der Umfrage der niederländischen Soziologen kam heraus, dass 7,4 Prozent der ehemaligen Moruroa-Arbeiter körperlich behinderte Kinder, 2,4 Prozent geistig behinderte Kinder haben.

Das CEP und der französische Staat machen sich den Fall Moruroa einfach. Da Moruroa offiziell ein wissenschaftlicher Laborbetrieb war, bei dem selbstverständlich alle Risiken unter Kontrolle waren, gab es keine Strahlenbelastung. Nach dieser Lesart kann es natürlich auch keine Strahlenopfer geben. Gilles Soubiran (53), Internist am einzigen öffentlichen Krankenhaus in Tahitis Hauptstadt Papeete, verweist auf die Blockadehaltung der Militärs. „Bis 1998 wurden Moruroa-Mitarbeiter im Militärkrankenhaus behandelt. Aber wir bekommen weder die Unterlagen mit den Krankengeschichten noch die zur Strahlenbelastung der Patienten.“

Soubiran betont, dass Schilddrüsenkrebs, der typischerweise von radioaktivem Jod nach Atomexplosionen ausgelöst wird, in Polynesien häufiger vorkommt als im Weltdurchschnitt. „Man kann aus wissenschaftlicher Sicht sicher sein, dass zumindest die oberirdischen Atomtests das Krebsrisiko in ganz Polynesien erhöht haben.“ In der Studie „Moruroa and Us“ wird darauf hingewiesen, dass in Polynesien 25,7 von 100.000 Frauen Schilddrüsenkrebs bekommen, in Frankreich nur 4,8 von 100.000 Frauen! Soubiran wundert es keineswegs, dass die Opfer erst jetzt an die Öffentlichkeit gehen. „Leukämie beispielsweise tritt oft erst 15 bis 20 Jahre nach einer Verstrahlung auf.“ Die Opfer seien dabei der Willkür des Staates ausgeliefert. „Mir ist der Fall eines zivilen Aufsehers bekannt, der Krebs bekam und als Strahlenopfer anerkannt wurde. Sein Fahrer dagegen bekam über viele Jahre wahrscheinlich die gleiche Strahlendosis ab, erkrankte ebenfalls an Krebs, wurde aber nicht als Opfer anerkannt.“

Dr. Soubirans Urteil indes wird von den Behörden nicht ernst genommen. So attestiert er dem Moruroa-Arbeiter Alfred Pautehea, der um die Anerkennung als Strahlenopfer kämpft, dieser sei „an Leukämie erkrankt, wie sie Arbeiter bekommen, die ionisierender Strahlung ausgesetzt sind“. Ein Dr. Yune vom Medicine Council der staatlichen Kranken- und Sozialversicherung CPS auf Tahiti stellt dagegen in einem Schreiben lapidar fest, Pauteheas Leukämie könne nicht als arbeitsbedingte Krankheit anerkannt werden, da dieser bei der Arbeit keinerlei Strahlung ausgesetzt war.

Nach einer Chemotherapie und zwei Krankenhausaufenthalten in Frankreich ist Alfred Pauteheas Leukämie vorläufig stabilisiert, keineswegs geheilt.

Erst der Atomunfall von Tschernobyl 1986 hat bei vielen Moruroa-Arbeitern und in der polynesischen Öffentlichkeit Zweifel an der von Frankreich immer wieder beschworenen absoluten Sicherheit der Atomversuche aufkommen lassen und zu einem Umdenken geführt. Dabei gab es auf Moruroa auch in der Phase der unterirdischen Versuche ernste Atomunfälle. So hat der Zyklon „William“ im März 1981 eine Asphaltdecke über vergrabenem Plutonium weggehoben und über 10 Kilogramm der hoch radioaktiven Substanz über das Atoll verteilt, auch über die Wohnsiedlungen der etwa 2.000 dort stationierten Arbeiter. Fünf Jahre brauchte die Behörde danach zur Dekontaminierung.

„Moruroa ist weit weg“

„Wir leben in einer eigenartigen Demokratie“, sagt Roland Oldham, Präsident von Moruroa e tatou. Wie andere Atomgegner auch bekommt er den Druck des politischen Establishments zu spüren. Dazu gehört nicht viel in einem Kolonialstaat, in dem es hauptsächlich öffentliche Arbeitsplätze gibt, die von einer frankreichhörigen, allseits als korrupt bezeichneten Marionettenregierung vergeben werden. Zuerst wurde Oldham als Gewerkschaftsführer wegen seiner atomkritischen Haltung aus seinem Verband geworfen. Und vor kurzem wurde ihm seine Stelle bei einem öffentlichen Sozialprojekt aus fadenscheinigen Gründen gekündigt. Oldham konnte auf vorläufige Wiedereinstellung klagen, der Rechtsstreit ist noch nicht entschieden.

Moruroa e tatou setzt auf Lobbyarbeit in den Parlamenten und den Druck der Öffentlichkeit, um langfristig für ihre Mitglieder den Status als Opfer zu erlangen. Auf Initiative der Vereinigung hin wurde im Februar 2002 im französischen Senat eine Konferenz zum Thema Moruroa durchgeführt. Und die französische Schwesterorganisation „Association Véterans des Essais Nucleaire“ (AVEN) hat für drei ihrer Mitglieder vor Gericht den Status als Atomopfer durchsetzen können.

Die Langzeitschäden durch Radioaktivität und die damit verbundene Verseuchung einer ganzen Region sind noch gar nicht absehbar. Untersuchungen von unabhängigen Wissenschaftlern wurden von den Franzosen immer wieder hintertrieben, eigene nicht durchgeführt oder der Öffentlichkeit vorenthalten. Auf die Umweltgefahren angesprochen, die heute von Moruroa für die ganze Region ausgehen, antwortet Miriana Bono, Verwaltungschefin im Umweltministerium Französisch-Polynesiens in Papeete, ganz unbefangen: „Das Thema berührt in Tahiti kaum jemanden. Moruroa ist weit weg.“