piwik no script img

Archiv-Artikel

I contain multitudes

Ambivalenzen zulassen! Für seine neue Platte „Encore“ orchestriert Eminem seine widersprüchlichen Persönlichkeiten zu einem Chor

VON TOBIAS RAPP

Eine der interessanteren Theorien, mit der liberale amerikanische Intellektuelle sich gerade die Wiederwahl von George W. Bush erklären, geht ungefähr so: die Grafiken, die die USA in zwei demokratische Küsten und einen republikanischen Kontinent aufteilen, seien falsch. Auch in den ländlichen Gegenden der blauen Bundesstaaten werde rot gewählt. Jede Stadt mit mehr als einer halben Million Einwohner habe dagegen mehrheitlich für die Demokraten gestimmt. Daraus lasse sich ableiten, dass es einen Kulturkampf gebe, den man als solchen endlich annehmen und führen müsse: einen Kampf der urbanen diversity gegen die rurale Einfalt, der städtischen Dichte gegen die ländliche Vereinzelung, der metropolitanen Ambivalenz gegen den provinziellen Zwang zur Eindeutigkeit.

Ob im Hause Shady Records ähnlich akribisch Ursachenforschung betrieben wird? Wo sich Eminem noch zehn Tage vor der Wahl auf der National Shady Convention zum Gegenpräsidenten hatte ausrufen lassen und mit „Mosh“ ein wütendes Stück gegen George W. Bush herausgebracht hatte? So sehr „Encore“, Eminems neues Album, all die Themen seiner vergangenen Platten fortspinnt, in einem unterscheidet es sich: es zieht eine Reflexionsebene ein, der sich der große Neinsager der amerikanischen Popkultur bisher immer verweigert hatte. Mit zwei Worten zusammengefasst: Ambivalenzen zulassen!

Im Grunde ist das nichts neues, schon immer fielen sich die verschiedenen Persönlichkeiten des Marshall Mathers gegenseitig ins Wort. Die Community, auf die sich HipHop sonst so gerne bezieht, hatte Eminem schon immer in seinen Kopf verbannt, aus dem ihre verschiedenen Stimmen fortwährend ausbrachen, sich gegenseitig ins Wort fielen, sich die Pointen klauten und widersprachen. Aber während sie bisher durcheinander schrien, hat Eminem sie nun zu einem Chor orchestriert: „I am large, I contain multitudes“ hat Walt Whitman einst Amerika sagen lassen, und in diesem Sinne ist Eminem tatsächlich der ideelle Gesamtamerikaner.

Zwar ist das Personal von Eminems Familienroman das gleiche geblieben – liebe Tochter, böse Mutter, hassgeliebte Ex-Frau. Auch die Kumpels sind noch die gleichen, und Eminems Faszination für Homosexualität wird um den Aspekt des Sich-Ins-Schwulen-Sein-Hineindenkens erweitert. Die Galerie der Feinde ist um Michael Jackson („Just lose it“) und R. Kelly („Ass like that“) ergänzt worden, es wird weiter mit suizidalen Fantasien gespielt und der Abneigung gegen die Vorstellung, von Fans vergöttert zu werden.

Doch sei es Reife, sei es der Zwang, auf alte Aufnahmen reagieren zu müssen, die Eminem dem Verdacht aussetzten, er sei als Jugendlicher Rassist gewesen (als 15-Jähriger hatte er schwarze Mädchen als Schlampen beschimpft) – „Yellow Brick Road“, das zentrale Stück des Albums, deutet fast unbemerkt einen neuen Weg an. Auf den ersten Blick entschuldigt sich Eminem dafür, „a whole race“ beleidigt zu haben (was er noch mit der typischen Eminem-Volte erledigt: alle Frauen seien schließlich Schlampen, nicht nur Afroamerikanerinnen). Um schließlich aber doch einen Schritt weiter zu gehen. Denn die „Yellow Brick Road“ ist eine Querstraße zur „8 Mile“, der titelgebenden Avenue zu Eminems scheinbar autobiografischem Erfolgsfilm. Sie trennt nicht das weiße vom schwarzen Detroit, sie verbindet die beiden Gegenden.

„Yellow Brick Road“ rückt die Perspektive zurecht und korrigiert die Hollywoodstory, die für das Happy End noch reichlich simplifizierend die Klassenzugehörigkeit an die Stelle der Hautfarbe gesetzt hatte. Tatsächlich schildert Eminem das gleiche Dilemma, ohne eine Lösung zu präsentieren: Wie bewegt man sich innerhalb einer Stadt, die von unterschiedlichsten identitären Setzungen beherrscht wird? Was tun als weißes HipHop-Kid, wenn auf einmal die afrozentrischen Werte den Diskurs bestimmen? Wie fühlt es sich an, wenn man sich als Vertreter der weißen Mehrheit der Kultur der schwarzen Minderheit zugehörig fühlt und sich auf einmal in der Minderheit wiederfindet?

Es ist eben weder ausschließlich die Hautfarbe, das Geschlecht oder die Ökonomie, stupid. Oder wie es in „Evil Deeds“ heißt, einem anderen Stück ähnlicher Thematik: „Predominantly white, predominantly black, well what about me? / Where does that leave me? / I guess I’m predominantly between both of ’Em“. Manchmal gilt es Widersprüche einfach auszuhalten.

Eminem: „Encore“ (Universal)