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Archiv-Artikel

Augen zu und durch

KINDESWOHLGEFÄHRDUNG SPD und CDU werfen sich gegenseitig Untätigkeit vor. Stadt nahm 2008 nur 55 Kinder in Obhut – bei 9.640 Verdachtsmeldungen

Vernachlässigungs-Verdacht

Der Trend bleibt ungebrochen: Nachdem im vergangenen Jahr 9.640-mal ein Verdacht auf Kindeswohlgefährdung gemeldet wurde (803-mal pro Monat), waren es in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres bereits wieder 2.516 Fälle (839 pro Monat).

■ Familien mit Problemen sind auch viel häufiger so genannte Hilfen zur Erziehung gewährt worden. Hier lag im vergangenen Jahr der einwohnerstärkste Hamburger Bezirk Wandsbek mit 2.206 Maßnahmen vor Mitte (1.751 Maßnahmen) und Altona (1.053 Maßnahmen). MAC

Der Fall der im Alter von neun Monaten verhungerten Lara wird zusehends zum Zankapfel zwischen SPD und CDU. Am Mittwoch gingen beide Parteien aufeinander los, warfen sich gegenseitig Untätigkeit bei der Aufklärung des Todesfalls und der Hilfe akut gefährdeter Kinder vor.

Die Senatsantwort auf eine Anfrage der SPD-Jugendpolitiker Carola Veit und Thomas Böwer brachte ans Licht: 2008 wurden den Jugendämtern 9.640 Verdachtsfälle auf Kindeswohlgefährdung bekannt. Dem aber steht in nur 55 Fällen die Einleitung sofortiger Schutzmaßnahmen für die betroffenen Kinder gegenüber. „Ein krasses Missverhältnis“, klagt Carola Veit.

Zwar sei es gut, dass „die Eingriffsschwelle hoch“ sei, doch müsse „das Kindeswohl im Zweifel vorgehen“. Auch im Fall von Lara habe ein solcher Verdachtshinweis vorgelegen, passiert aber sei bis auf die lückenhafte pädagogische Betreuung der Familie nichts.

Veit fordert die Sozialbehörde deshalb auf, „ihre Handlungsanweisungen an die Jugendämter zu überprüfen“. Die Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) bräuchten eine „größere Rechtssicherheit und mehr Rückendeckung“, um bei einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls eine Inobhutnahme zu veranlassen.

Die Sozialbehördensprecherin Jasmin Eisenhut relativiert die hohe Zahl der Verdachtsmeldungen. Da sich in ihr auch Mehrfachanzeigen zu einem einzigen Kind und alle Polizeimeldungen über von Jugendlichen begangene Straftaten verbergen, bedeute die „Zunahme der Meldungen nicht, dass es auch mehr misshandelte Kinder gibt“. Deshalb sehe ihre Behörde „keinen Handlungsbedarf“. Eisenhut: „Die traurige Zahl von 55 Kindern, die in Obhut genommen wurden, zeigt, dass der Kinderschutz in Hamburg greift.“

Derweil wirft die CDU im Bezirk Mitte SPD-Bezirksbürgermeister Markus Schreiber und der Jugendamtsleiterin Pia Wolters „Versäumnisse“ bei der Aufklärung des Todes von Lara vor. Aus einer Antwort des Bezirksamtes auf eine CDU-Anfrage gehe hervor, das dieses „keinen Überblick über die Arbeitsabläufe des ASD“ und die Intensität der Erziehungshilfen habe. So habe der Bezirk keine Antwort auf die Frage geben können, ob die ASD-Mitarbeiter „hinreichend geschult“ seien, um „Mangelernährung bei Kleinkindern zu erkennen.“ Unbeantwortet blieb auch die Frage, wie häufig und wie lange die Familie von Lara durch die Betreuerin des Rauhen Hauses tatsächlich aufgesucht wurde. MARCO CARINI