: Der Regisseur, der Amok lief
Johann Kresnik wollte in „Die Zehn Gebote“ nackte Frauen im Bremer Dom auftreten lassen – und flog dort jetzt raus
Fünf Minuten Tagesthemen: So viel Aufmerksamkeit hat Johann Kresnik schon lange nicht mehr erfahren. „Die Zehn Gebote“ mit dem Auftritt nackter Schauspielerinnen wollte er im Bremer Dom inszenieren und nun ist das Projekt nach den ersten öffentlichen Proben abgeblasen. Was hat man denn von Kresnik erwartet bei der Inszenierung an einer der letzten Stätten von Einverleibungen des Einzelnen in die Gemeinschaft? Dass er sakrale Rituale nicht antastet? Um Altar und Kanzel einen Bogen macht? Kresnik, der Kreuzigungen und kannibalistische Bilder des Opferns in jeder Inszenierung unterbringt. Der seit dreißig Jahren geübt hat, jede hierarchische Ordnung unter Führerverdacht zu stellen. Ein schwarzer Surrealismus, der immer mehr auch zu einer Altmännerfantasie geworden ist, ist sein Markenzeichen.
In Bremen hat alles begonnen: Da wurde mit Johann Kresnik das deutsche Tanztheater geboren. Sein Tanzstück „Paradies“ von 1968, über das Attentat auf Rudi Dutschke, gilt als die erste politische Choreografie der Nachkriegszeit. „Ballett kann kämpfen“ war die Parole, unter der Kresnik zehn Jahre lang (1968–1978) das Bremer Tanztheater leitete. Die Stoffe und Formen waren ein Agitprop-Angriff auf das Ballett: sozialkritisch motiviert, genährt von psychoanalytischen Kategorien, die anderes über den Körper wussten als die Vokabeln des formalisierten Tanzes, und von einer Bildermacht, die sich in der Kunstgeschichte ebenso gut auskannte wie in der des frühen Films.
Dann aber begann in den 80ern schon die Phase der Selbstmythisierung und Stilisierung zum Heros der politischen Kunst. Kresnik arbeitete sich an Inkunabeln einer links-intellektuellen Geschichte ab, nahm die Biografien von Sylvia Plath, Ulrike Meinhof, Rosa Luxemburg, Frida Kahlo, von Friedrich Nietzsche und Pasolini als Stoff. Er nahm an ihren Leidensgeschichten Maß, als ob sich politische Bedeutung an der Größe des Schmerzes und der Tiefe der Verdrängung ablesen ließe.
1994 holte Matthias Lilienthal Johann Kresnik an die Volksbühne Berlin. Kresniks Abrechnung mit politischer Folklore fand an der Nahtstelle des wiedervereinigten Deutschlands neue Berechtigung. Nicht zuletzt profitierte das Theater von Frank Castorf und Christoph Marthaler von der Einübung des Publikums in nichtdiskursive Erzählweisen. Doch als das Choreografische Theater der Volksbühne 2002 aufgelöst wurde, hatte Kresniks Stil den Anschluss an die Felder der Diskussionen verloren.
Dennoch ist er noch immer gefragt. Seit er die Volksbühne verlassen hat, hat er in Bonn, Dresden, Hannover, Graz und Wien weiter inszeniert. Das Ärgerliche ist nicht, dass der Tabubruch zum vorhersehbaren Teil seiner Handschrift wurde, sondern dass er damit oft eine Chance verschenkt hat: Denn seine Motivkreise sind es immer noch wert, Konsens und Mythenbildung zu durchstoßen und nach neuen Perspektiven zu suchen.
KATRIN BETTINA MÜLLER
kultur SEITE 21