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Archiv-Artikel

Wenn Opa vom Krieg erzählt

Es hilft rein gar nichts – das Weihnachtsgrauen rückt unaufhaltsam näher

Ein einsamer Kämpfer, nur er und seine Klampfe. Immer mit einem Bein in Bautzen

Jedes Jahr an Weihnachten ist es wieder so weit: Opa erzählt vom Krieg. Das heißt, nicht ganz, aber so ähnlich. Opa war nicht im Krieg, aber ein bekannter Dissident in der Zone. Das heißt, so richtig bekannt eigentlich nicht. Wie Biermann oder so. Aber eine dicke Nummer am Prenzlauer Berg. Sagt Opa. Und immer mit einem Bein in Bautzen. Sagt Opa. An Weihnachten.

Das kommt, weil Opa den Grappa nicht verträgt. Irgendwann, nach dem fünften Gläschen oder so, kriegt er seltsam glitzernde Äuglein und wippt stumm mit dem Oberkörper in seinem abgewetzten Ledersessel hin und her. Und nuschelt irgendwas vor sich hin: „Saubande …“ Dann springt er auf. Das heißt, er springt auf, so gut es geht, denn Opa hat es schon lange mit dem Rücken. Aber: Der Grappa hilft ihm über die schlimmsten Schmerzen hinweg. Dann macht er mit der Rechten eine rätselhaft sensende Bewegung, als würde er hoch wachsendes Gras abmähen und zischelt speichelsprühend: „Ssst, ssst …“ Und in die erstaunten Augen der Zwillinge: „Alle rasieren.“ Die Zwillinge verstehen überhaupt nicht, was Opa sagt. Sie sind erst drei und können im Prinzip nur zwei Dinge: Wenn Essen in der Nähe ist, die Schnäbel aufreißen – und wenn gerade nichts hineingestopft wird, zum Steinerweichen brüllen.

Gernot, der Schwiegersohn, weiß, was nun kommt. Er muss schließlich jedes Weihnachten mit Opa feiern. Ob er will oder nicht. Opa hat nämlich das Häuschen in Berlin-Ost, das Gernot gern einmal erben will. Zusammen mit Goldi, die eigentlich Gundula heißt. Also muss er in den sauren Apfel beißen und den Opa heimsuchen mit seiner lieben Frau. Der spät Gebärenden. Beziehungsweise „der lauteren Henne“, wie sie Opa, der manchmal gar nicht feinfühlig ist, schon spöttisch gerufen hatte, ob ihres nicht vorhandenen Nachwuchses. Irgendwie hat es nun doch noch geklappt. Und wie. Gleich doppelt. Zwillinge. Aber Opa ist misstrauisch: Die beiden Mädchen sehen Gernot nämlich keine Spur ähnlich, und manchmal murmelt er was von Genshopping.

An Weihnachten nicht. An Weihnachten erzählt Opa vom Krieg. Jedes Jahr. Opa war nämlich im Krieg. Mit den Bonzen des Systems. Ein einsamer Kämpfer, nur er und seine Klampfe. Immer mit einem Bein in Bautzen.

Roland ist Opa, beziehungsweise anders herum: Opa heißt Roland. Und der ist nicht zu überhören, wenn er singt. Wenn Roland aus seinem Zyklus „Graue Tage, blaue Nächte“ singt, wackeln die Wände. Zu diesem Zweck stiefelt Roland an jedem Weihnachten, das der Herr werden lässt, irgendwann aus dem großen Wohnzimmer; dann ruft seine Tochter Goldi: „Opa, bitte nicht!“ Aber er hört nicht, er will nicht hören. Er will in den Keller klettern und auf die gute, alte Wilma blasen, dass der Staub nur so fliegt. Wilma ist sein „Wimmerholz“, ein abgeschrapptes, mattes Gitarrending, auf dem die Saiten rostig scheppern.

Wilma und das Foto, das er forsch herumzeigt: Er, Wilma und Krug. „Das ist Manfred Krug“, sagt Opa dann bedeutsam. Goldi tut kurz begeistert und muss sich dann um die Zwillinge kümmern, die schon wieder zu brüllen beginnen. Frau Schröder schmunzelt mit feuchten Augen. Sie freut sich, dass noch ein Ton zu ihr durchdringt: „Sind die süß!“ Opa hält ihr die Fotografie dicht vor die Augen, als würde sie so schlecht sehen, wie sie hört. Gernot sagt: „Das ist doch der … ist das nicht …?“ Opa nickt stolz: „Aber genau, das ist …“ Gernot strahlt: „Dieser Fußballer … Moment, gleich hab ich’s …“ Roland, der Opa, zerhackt verächtlich die Luft in kleine, dünne Scheiben und jault auf: „Nejnejnej!“ Dann reißt er Wilma an sich und fängt zu brüllen an: „Graue Tage, blaue Nächte, sind es Linke, sind es Rechte?“ Die Gitarre ist nicht gut gestimmt, außerdem muss Roland plötzlich husten. Es scheppert noch ein bisschen, dann versandet der Vortrag.

Opa Roland zieht noch eine Fotografie heraus, die er kopfschüttelnd studiert: „Nejnejnejnej!“ Und brüllt: „Gernot!“, dass sogar die Zwillinge für eine Sekunde baff und still sind. Gernot ist aber nicht da, sondern hat sich flink verzogen. Sitzt zum Rauchen auf der Toilette, dem einzigen Ort, an dem man an Weihnachten vor Roland sicher ist. Der wedelt noch mal aufgekratzt mit der Fotografie: „Gernot!“ Er kriegt aber wieder keine Antwort, auch nicht von Gundula, die scheinheilig an den Zwilligen herumputzt.

Gott sei Dank ist die Schrödersche noch da. Die hört zwar nichts, aber nicken kann sie wie keine Zweite. Was will man mehr? Und schon geht es los. Opa Roland schildert, wie er in Proppau das kleine Züglein bestieg, um nach Berlin zu fahren. Nur mit einem kleinen Köfferchen bewaffnet, der guten, alten Wilma und in den Stiefelchen seines Onkels Poldi: „Nejnejnejnej – das waren Zeiten!“

Auf der Toilette zündet sich Gernot noch ein Zigarettchen an. Er hat nur „Proppau“ gehört und weiß: Die Geschichte hat erst angefangen, gleich wird Roland die Gitarre stimmen und zum Warmwerden erst mal „Bandiera rossa“ versuchen. Der Abend ist noch lang. ALBERT HEFELE