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Archiv-Artikel

DIE SCHWERSTE INDUSTRIEKATASTROPHE DER GESCHICHTE Bhopal, 20 Jahre danach

IN der Nacht zum 3. Dezember 1984 entwichen aus einem Lagertank der Pestizidfabrik von Union Carbide im Armutsviertel von Bhopal über 40 Tonnen eines tödlichen Gasgemischs. Für mehr als 3 000 Menschen bedeutete das Gas den sofortigen Tod, viele tausend sind in den darauf folgenden Monaten qualvoll erstickt. Im nordindischen Bundesstaat Madhya Pradesh gibt es seither das Department of Bhopal Gas Tragedy Relief and Rehabilitation. Viel Erleichterung erwarten sich die bis heute zum Teil schwer kranken Bewohner nicht. Die vom Staat verteilten Tabletten stehen im Ruf, ohnehin nichts zu bewirken.Von OLIVIER BAILLY *

Gas Miyan lebt im Armenviertel Nawab Colony in Bhopal. Das Gesicht des zwanzigjährigen Inders ist voll Pusteln, seinen schwächlichen Körper kann er nur mühsam bewegen. Wenn man sich vor seiner illegal erbauten Hütte auf die Zehenspitzen stellt, kann man den Schornstein der stillgelegten Fabrik sehen, die sein Leben ruiniert hat.

Gas Miyan wurde am 3. Dezember 1984 geboren. In der Nacht davor war aus dem Lagertank E 610 in der nahe gelegenen Fabrik der Union Carbide India Limited (UCIL)[1]das hochgiftige Gas Methylisocyanat (MIC) entwichen, ein Ausgangsstoff für die Produktion der Pestizide Temik und Sevin. In den Behälter war Wasser eingedrungen, das hatte eine chemische Reaktion ausgelöst. Die Sicherheitssysteme waren entweder eingespart worden oder defekt. Der Druckmesser des Lagertanks E 610 zeigte zwar Überdruck an, aber die Techniker in der Steuerungszentrale waren bei ihren unzureichend gewarteten Instrumenten falsche Anzeigewerte gewohnt. 42 Tonnen Methylisocyanat breiteten sich über der Stadt aus, das Doppelte der erlaubten Höchstlagermenge.

Kurz nachdem die Gaswolke die ersten Wohnhäuser erreicht hatte, hörten Champa und Eshaq, die Eltern von Gas Myan, ihre Nachbarn schreien und husten. Ihre Augen begannen zu brennen. Champa und Eshaq verloren sich im dichten Rauch. Champa rannte in Richtung des Gandhi Ladies Hospital. Die Wehen setzten ein, und sie brachte am Straßenrand – mitten in der schwersten Chemiekatastrophe aller Zeiten – einen Jungen zur Welt. Die Eltern nannten ihn Gas Miyan[2].

Gas ist einer von 500 000 Menschen, deren Leben durch die Chemiekatastrophe zerstört wurde.[3]Gas hat noch nie gearbeitet, seine Ateminsuffizienz lässt keinerlei körperliche Anstrengung zu. Zum Studium fehlt ihm das Geld. Er weiß noch nicht, was er einmal machen will. Union Carbide hat seine Wahlmöglichkeiten extrem beschnitten: „Ohne diese Katastrophe wäre ich heute gesund und könnte meine Familie ernähren.“

Der Name Union Carbide war nicht immer ein Synonym für Hoffnungslosigkeit. Im Zuge der „grünen Revolution“, mit der die indische Regierung die Ernährung der Bevölkerung sicherstellen wollte, baute der US-Multi in Bhopal eine Pestizidfabrik mit einer jährlichen Produktionskapazität von 5 000 Tonnen.[4]Die Leute freuten sich über die entstehenden Arbeitsplätze. Jagee Miyan erinnert sich: „Das war eine große Sache, sogar für eine Stadt wie Bhopal. Außerdem kam die Firma aus Amerika, konnte also nur gut sein.“

Da der Absatz für Sevin in Indien hinter den Erwartungen zurückblieb, schrieb das Unternehmen von 1982 an rote Zahlen. Um die Verluste aufzufangen, wurden die Kosten reduziert und viele qualifizierte Mitarbeiter entlassen. Das führte auch zu Sicherheitsproblemen. Zwischen 1981 und 1983 kam es zu fünf Gaslecks; es gab einen Toten und 47 Verletzte. Aber es änderte sich nichts, bis zu dem fatalen Unfall.

Wie die meisten anderen Opfer dieser Unternehmenspolitik erhielten Jagee, Gas und ihre Eltern eine Entschädigung in Höhe von 25 000 Rupien (715 Euro)[5,]für []20 Jahre Schmerzen eine lächerliche Summe. Das Geld stammte aus einem 470-Millionen-Dollar-Entschädigungsfonds, den die Union Carbide der indischen Regierung 1989 zur Verfügung stellte.[6]Nach dem Bhopal Gas Leak Disaster (Processing of Claims) Act vom 29. März 1985 verhandelte der indische Staat stellvertretend für die Opfer mit dem Multi. Als Gegenleistung für eine Gesamtentschädigung, die gerade ein Sechstel der geforderten Summe von 3 Milliarden Dollar ausmachte, verzichtete die Regierung auf eine strafrechtliche Verfolgung des Unternehmen und seiner Leitung – eine wohlfeile Unschuldserklärung.

Sattinah Sarangi, Leiter der Nichtregierungsorganisation Sambhavna Trust, die in Bhopal eine Klinik betreibt, kommentiert: „Union Carbide verfolgte die Strategie, die ganze Verantwortung der indischen Regierung und der indischen Unternehmenstochter Union Carbide India aufzubürden.“ Die Bhopal-Opfer sahen die Vereinbarung von 1989 als Verrat und den indischen Staat als Komplizen der multinationalen Unternehmen. Indem dieser von einer Strafverfolgung absah und sich mit einer so geringen Entschädigung begnügte, gab er dem Kalkül vieler Multis recht: Ein Menschenleben in der Dritten Welt ist nur einen Bruchteil dessen wert, was es in den Industrieländern zählt. Die Summe wurde auf der Grundlage einer Restlebenserwartung von 30 Jahren und einem durchschnittlichen Familieneinkommen von monatlich 800 Rupien (23 Euro) berechnet.[7]

Die meisten Familien, die einen Angehörigen verloren hatten, bekamen zwischen 50 000 und 100 000 Rupien (1 430 bis 2 860 Euro). Bei so kläglichen Summen hätte man wenigstens bei der Verteilung der Gelder äußerst gewissenhaft verfahren müssen. Doch die letzten Zahlungen – mit Zinsen rund 300 Millionen Dollar – fließen erst Ende 2004 – zwanzig Jahre nach der Katastrophe.

Die indische Regierung zeigte sich von Anfang an unfähig, die Katastrophenopfer eindeutig zu identifizieren und exakte Zahlen zu ermitteln. „Als die Vereinbarung 1989 unterzeichnet wurde, war von 10 000 Betroffenen die Rede“, sagt N. S. Sharma, Journalist bei The Tribune. Als das Geld 1995 ausgezahlt werden sollte, waren es auf einmal 67 000.

Attest für 1 000 Rupien

DIE größte Schwierigkeit bereitete die Identifizierung der Betroffenen. Ein MIC-Opfer lässt sich nicht ohne weiteres von einem anderen Kranken unterscheiden. Da über die Auswirkungen des Gases auf den Menschen keine ausreichenden medizinischen Erkenntnisse vorlagen, konzentrierte man sich auf geografische Kriterien. Das Indian Council of Medical Research stellte fest, über welche Stadtteile die Giftgaswolke gezogen war. 36 der 56 Bezirke Bhopals, alle in der Altstadt, wurden als „gas affected“ eingestuft.

Wer eine Entschädigung erhalten wollte, musste also erstens nachweisen, dass er in besagter Nacht in einem der 36 betroffenen Bezirke wohnte, und zweitens durch ein ärztliches Attest seine Erkrankung belegen. In einem Land, in dem die Beantragung von offiziellen Papieren zumal bei den Armen als sinnlose Mühe gilt,[8]scheiterte dieses Verfahren an der korrupten Verwaltung, dem niedrigen Alphabetisierungsgrad und dem schieren Ausmaß der Katastrophe. Wobei einige Leute die bürokratischen Schwächen auch zur persönlichen Bereicherung ausnutzten.

„Dieses System begünstigte einen Handel mit gefälschten Dokumenten“, sagt N. S. Sharma. „Ich wohnte in der Nacht zum 3. Dezember 1984 tausende Kilometer von Bhopal entfernt in Jammu, in Kaschmir. Aber als ich 1991 nach Bhopal kam, bot man mir für 800 Rupien (23 Euro) ein Papier an, aus dem hervorging, dass ich in der fraglichen Zeit in einem der betroffenen Bezirke gewohnt hatte.“ Und Ravi Pratap Singh von der Action Aid India berichtet: „Die medizinischen Bescheinigungen bekam man bei bestimmten Ärzten für 1 000 Rupien.“

Zehntausende Menschen – nicht alle Opfer der Katastrophe –genießen seit nunmehr 20 Jahren kostenlose medizinische Versorgung. Doch etliche der meist armen Menschen nutzen das staatliche Angebot nicht. Murlidhar-Sahu zum Beispiel geht lieber zu einem der zahllosen Privatärzte, die überall in Bhopal für sich werben: „Im staatlichen Krankenhaus sind die Warteschlangen zu lang, und man braucht furchtbar viele Papiere.“ Champa ist wie viele andere Menschen der Ansicht, dass die von der Regierung ausgegebenen Tabletten nichts helfen, weshalb sie zu einem Privatarzt geht. Auch Sattinah Sarangi klagt: „Die staatlichen Krankenhäuser führen noch immer keine Patientenunterlagen, ohne die eine auf vielfältige Symptome abgestimmte Medikation unmöglich ist. Es sind schlechte Kliniken, weil sie von Bürokraten geleitet werden. 1994 hat die Regierung die MIC-Forschung eingestellt, dabei müsste man die Entwicklung der Krebserkrankungen und die Entwicklung der Kinder, die mit dem Gas in Berührung kamen, langfristig erforschen.“

Indes haben die Bundesbehörden und der Bundesstaat Madhya Pradesh durchaus konkrete Schritte unternommen. Neben der kostenlosen medizinischen Versorgung werden noch 20 Jahre nach dem Unfall Lebensmittelrationen verteilt (Weizen, Reis, Zucker); Werkstätten zur beruflichen Eingliederung wurden eingerichtet, kleinere Finanzhilfen ausgezahlt, ein eigenes Ministerium für Bhopal-Angelegenheiten wurde geschaffen.

Die staatlichen Stellen ziehen eine positivere Bilanz. „Die Regierung von Madhya Pradesh zählt die Katastrophenhilfe für die Bhopal-Opfer zu den erfolgreichsten Hilfsprogrammen einer Regierung in der Geschichte industrieller Katastrophen“, meint Bhupal Singh, ein hoher Beamter im Department of Bhopal Gas Tragedy Relief and Rehabilitation: „In medizinischer Hinsicht ist es uns gelungen, die Auswirkungen der Katastrophe einzudämmen. Inzwischen reicht die Hilfe aus.“[9]Ähnlich sieht es der Leiter der medizinischen Abteilung im Bhopal-Ministerium, Dr. B. S. Ohri: „Inzwischen haben die Menschen ihre Gesundheit allmählich zurückgewonnen, das Schlimmste ist überstanden.“ Mit 31 staatlichen Krankenhäusern und Gesundheitsstationen, die über insgesamt 634 Betten verfügen, sei die staatliche Versorgung für die 500 000 Katastrophenopfer mehr als ausreichend, meint Dr. Ohri.

Ein ganz anderes Bild bietet sich im Nehru Hospital, ganz in der Nähe des Katastrophenorts. An den Schaltern endlose Warteschlangen, jeden Tag werden hier 4 000 Patienten versorgt, schätzt ein Orthopäde. Doch der Chefarzt meint: „Zwischen 1987 und 1989 haben wir 362 000 Personen untersucht, 95 Prozent waren aus ärztlicher Sicht überhaupt nicht oder nur vorübergehend krank. Die NGOs sehen das anders, aber sie haben ja auch andere Interessen.“

In den Vierteln rings um die Fabrikruine klagen noch immer viele Menschen über zermürbende Schmerzen, Atembeschwerden, Nervenleiden und Depressionen – und eine wirkungslose Behandlung. Dr. Ohri hat auch dazu seine eigene Meinung: „Die Leute sind schnell erschöpft? Bei starken Menstruationen oder infektiösen Darmkrankheiten ist es nicht ungewöhnlich, dass sich die Patienten matt fühlen.“ Atemprobleme? Unfähigkeit zu schwerer körperlicher Arbeit? „Das erzählen sie Journalisten, um Mitleid und Aufmerksamkeit zu erregen.“ Von Simulanten spricht Dr. Ohri nicht, aber es ist klar, was er meint.

Entschädigung im Konkurs

SEIT August 1999, als Union Carbide von Dow Chemical[10]für 9,3 Milliarden Dollar aufgekauft wurde, existiert die Firma nicht mehr und damit auch keine juristische Person, die man für die tödliche Fahrlässigkeit weiter haftbar machen könnte.

Unterdessen gibt es in Bhopal eine zweite Opfergeneration. Zum Teil sind sie Opfer des chemisch verseuchten Trinkwassers. Vinuta Ghopal von Greenpeace India sieht dies als Folge des laufenden Produktionsbetriebs: „Berichte aus dem Hause Union Carbide selbst schildern die Bodenkontamination als so dramatisch, dass schnelles Handeln erforderlich sei. Untersuchungen der Regierung kommen zu denselben Resultaten.“ Trinkwasserproben ergaben bei den Schwermetallen Zink, Kupfer, Blei, Nickel und Quecksilber eine zum Teil sechsmillionenfach erhöhte Konzentration.[11]

20 000 Menschen in Bhopal trinken jeden Tag verseuchtes Wasser. Der Oberste Gerichtshof verfügte am 7. Mai dieses Jahres, dass man sie umgehend mit sauberem Trinkwasser versorgen müsse. Seither wurden in den betroffenen Stadtvierteln zwar Tausendlitertanks aufgestellt, doch die sind nicht immer voll.

Moham Kumar im Bezirk Atal Ayub Nagar trinkt Grundwasser aus dem verseuchten Boden: „Ich habe keine andere Wahl, das Wasser aus den Tanks reicht nicht aus.“ Murlidhar-Sahu und seine Familie klagen: „In der Trockenzeit reicht das Trinkwasser hier nicht, und wir müssen zwei bis drei Kilometer gehen, um welches zu holen.“ In Nawab Colony, dem ärmsten der Armenquartiere, „sind die Wassertanks schon seit drei Monaten leer. Vielleicht weil die Straßen kaputt sind und es die Tanklastwagen nicht bis hierher schaffen.“ Nach Angaben der NGO Sambavna Trust fehlen pro Monat 800 000 Liter, um den Bedarf zu decken.

Die Internationale Kampagne für Gerechtigkeit in Bhopal (ICJB), ein Bündnis aus örtlichen und internationalen NGOs, fordert unter anderem die Auslieferung und Verurteilung von Warren Anderson, der zur Zeit der Katastrophe Chef der Union Carbide Corporation war. Ein weiteres Ziel ist die sofortige Entgiftung des Geländes durch Dow Chemical. Seit 20 Jahren rottet die Fabrik vor sich hin. Auf dem Gelände liegen aufgeschlitzte Säcke herum, dazu Fässer und offene Behälter mit der Aufschrift „Sevin-Rückstände“. Untersuchungen von Regierungsseite, Nichtregierungsorganisationen und Dow Chemical haben ergeben, dass das Fabrikgelände stark verseucht und das Grundwasser in der Umgebung vergiftet ist. „Wir sind technologisch nicht in der Lage, das Gelände zu reinigen“, sagt Vinuta Ghopal. „Und dafür die Gelder aus dem Entschädigungstopf zu verwenden kommt nicht in Frage.“

Schließlich fordert die Kampagne die finanzielle Entschädigung und soziale Rehabilitierung aller unmittelbaren und mittelbaren Opfer der Katastrophe sowie die ständige medizinische Kontrolle der nachfolgenden Generationen, um genetischen Erkrankungen vorzubeugen.

Zuallererst müsste man allerdings den indischen Staat überzeugen. Der versucht seit zwanzig Jahren, einerseits den gesundheitlichen Anliegen der Bevölkerung gerecht zu werden, andererseits aber die Multis vor Haftungsansprüchen zu bewahren, um neue Investoren nicht zu verschrecken. „Was nützt uns ein Wachstum, das auf der ruinierten Gesundheit der Bevölkerung aufbaut?“, empört sich Sattinah Sarangi. „Indien und China sind die bevorzugten Standorte für Chemieunternehmen. In Indien werden dreimal so viele Chemiefabriken gebaut wie im internationalen Durchschnitt, das Risiko einer Chemiekatastrophe ist also heute noch höher.“ Und er verweist auf einen Unfall in einer Chemiefabrik im südwestindischen Eloor Ende August 2004: „Die Rettungsmannschaften kamen zunächst mit Bandagen an. Bei einem Chemieunfall! Wir haben eben nichts dazugelernt.“

Müsste so nicht auch das bittere Schlusswort zu Bhopal lauten? Sattinah widerspricht energisch: „Wir kämpfen für wirkliche Gerechtigkeit, und wir werden immer mehr.“ Zwei Sprecherinnen der Opfer, Rasheeda Bee und Champa Devi, wurden mit dem Goldman-Preis 2004 ausgezeichnet, einer Art Nobelpreis für den Umweltschutz.

Die Entschlossenheit solcher Aktivisten lässt Vinuta Ghopal hoffen: „Sie und viele andere demonstrieren, dass sich der weite Weg lohnt. Sie haben Entschädigung bekommen, weil sie dafür gekämpft haben. Und der Kampf geht weiter. Ich denke, dass wir am 3. Dezember 2004 vor allem diese Aktivisten feiern.“

deutsch von Bodo Schulze