Die Fliege auf unserer Haut

VON CRISTINA NORD

Zu Tieren pflegt Nói, der junge Held in Dagur Káris Spielfilmdebüt „Nói Albinói“, ein besonderes Verhältnis. Während sein Vater der Katze keine Aufmerksamkeit schenkt, gibt er ihr Milch. Am Käfig der Kaninchen steht er lange und streichelt sie. Später schaut er minutenlang zu, wie eine Stubenfliege über seine Finger, Hände und Unterarme wandert. Das bedeutet zunächst nicht mehr, als dass Nói (Tomás Lemarquis), selbst wenn er das Zeug zum Rebellen hätte und in einer anderen Welt Amok liefe, keiner Fliege etwas zuleide tut. Doch in der Art, wie sich die Kamera an das Insekt heftet, liegt noch etwas anderes. Denn je näher sie ihm kommt, umso rätselhafter wird es.

Tiere haben im Film viele Funktionen. Mal sind sie Feind, mal Freund, mal dienen sie dem Protagonisten als Spiegel. Seabiscuit zum Beispiel: Das Rennpferd aus dem gleichnamigen Spielfilm von Gary Ross hat zu kurze Beine, man spielt ihm übel mit, und es dauert nicht lange, bis der Abdecker wartet. Dem Jockey Red Pollard (Tobey Maguire) ergeht es nicht viel besser. Seabiscuits Aufgabe ist dabei klar: Der Hengst verleiht der Erzählung einen zweiten Boden, indem er den Weg des Protagonisten spiegelt. Eine eigenständige, ihm gemäße Logik tritt mit ihm nicht in den Film. Ähnliches gilt für den Rüden, den Edward Norton alias Monty in Spike Lees „25 Stunden“ rettet. Seine Funktion erschöpft sich darin, zu untermalen, dass Monty, mag er auch mit Drogen dealen, ein Herz hat. Ob weißer Hai, nette Wölfe oder müde Pferde: In allen Fällen bleibt die Definitionshoheit, wie sich das Tier auf ihn bezieht, beim Menschen.

Neuerdings drängt es eine andere Art von Tieren auf die Leinwand: Kaninchen, Stubenfliegen, Welpen, Meerschweinchen. Sie bringen ihre eigene Logik mit, indem sie den Fluss der Erzählung anhalten, indem sie mit ihrer Präsenz die Gesetze der Figurenpsychologie und der Dramaturgie suspendieren. „Die Biene, die Libelle oder die Fliege“, erklärt der italienische Philosoph Giorgio Agamben, „die wir an einem sonnigen Tag neben uns fliegend beobachten, bewegen sich weder in derselben Welt, in welcher wir sie beobachten, noch teilen sie mit uns – oder unter sich – dieselbe Zeit und denselben Raum.“ Filme wie „Nói Albinói“ haben das begriffen. Wenn sie auch wissen, dass sie die von unserem Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizont losgelösten Parallelwelten niemals wiedergeben können, so weisen sie doch hartnäckig auf deren Existenz hin.

Eine besondere Rolle kommt dabei der Arbeit des Allround-Künstlers Vincent Gallo zu. Kleinen Chiffren gleich besiedeln Tiere seine Filme. Am Anfang von „Buffalo 66“ (1998) hält ein Junge namens Billy Brown einen Welpen im Arm, am Ende von „The Brown Bunny“ (2003) zupften Kaninchen am Gras, bis Gallo sich entschloss, den kontrovers diskutierten Film um eine halbe Stunde zu kürzen und dabei das ursprüngliche Ende zu streichen. Selbst in Claire Denis’ düsterem Vampirfilm „Trouble Every Day“ (2001) findet ein Welpe Platz. Shane Brown (Gallo) kauft das Tier für seine junge Frau June (Tricia Vessey), bevor er einer anderen jungen Frau das Blut aus dem Leib saugen wird.

Es wird mehr als ein niedlicher Zufall sein, wenn Vincent Gallo einen Kleintierzoo um sich schart. In den Tieren, zumal in den jungen, setzt sich fort, was an Gallo weich und verletzlich ist. Sie bilden die zarte Kehrseite seiner oft gescholtenen Egomanie und gleichen darin der Stubenfliege auf Nóis Arm: Mit den Tieren tritt eine Sanftheit in die Filme, die in eigentümlichem Kontrast zur verhaltenen Aggressivität der Protagonisten steht.

Zugleich stehen die Tiere für eine Existenz, die von sich selbst kein Bewusstsein hat, in einer Gegenwart ohne Anfang und Ende. Sie wissen nicht, dass sie eine Zukunft haben, und folgen daher keinem Plan. Darin ähneln sie den von Gallo verkörperten Figuren. Die zeichnen sich zwar durch eine überwältigende Präsenz und meist auch durch ein mächtiges Begehren aus, doch ob dies einem Zweck dient oder ein Ziel verfolgt, muss bezweifelt werden. Noch dort, wo Gallo sich geradlinig zu bewegen scheint (in „The Brown Bunny“ durchquert der von ihm gespielte Protagonist die USA von Ost nach West), wird diese Bewegung eben nicht von ihrem Ziel bestimmt, sondern von der Gegenwart der Autobahnkreuze und Motels.

Wie die Tiere gehört Gallo also einer anderen Logik an. Je tiefer er davon durchdrungen ist, umso aufregender geraten die Filme – besonders dann, wenn Gallo selbst zu einer Art von Tier wird wie in „Trouble Every Day“. Darin gibt er ein Wesen, das zwischen zwei Existenzformen schwankt. Er ist Shane Brown, der junge, verliebte Ehemann. Zugleich mischt sich in ihm der Vampir mit der Menschen fressenden Raubkatze, und darin gleicht er der Figur der Coré. Mit einer zugleich bedrückenden und schrecklichen Anschaulichkeit in Szene gesetzt. Immer wieder vibriert „Trouble Every Day“ angesichts der Gesten und Glieder der Figuren: wenn das Zimmermädchen beim heimlichen Probeliegen einen Abdruck auf dem Laken des Hotelbettes hinterlässt, wenn Gallo sich am Nacken dieses Zimmermädchens hungrig sieht, wenn er deren Hals so küsst, dass Kuss und Biss ineinander übergehen.

Cristina Nord, 35, ist taz-Kulturredakteurin mit Schwerpunkt Film.