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Archiv-Artikel

Am Rande des Zusammenbruchs

Die EU darf die Türkei nicht aufnehmen. Tut sie es, wird sie sich zu einem Binnenmarkt oder sogar zu einer Freihandelszone zurückentwickeln. Das kann kein Europäer wollen

Die EU-Mitglieder wussten in der Türkei-Frage im Grunde nie so recht, was sie eigentlich wollten

Heute soll es bei den EU-Staats- und Regierungschefs zum Schwur kommen – zum Schwur über den Antrag der Türkei auf Beitritt zur Europäischen Union. Die meisten von ihnen dürften sich aber wohl wünschen, sie könnten ihren Schwur irgendwie abschwächen. Etwa so, wie in früheren Zeiten in bayerischen Gerichtssälen Schwörende versucht haben, ihren Schwur „abzuleiten“, indem sie zwar mit ihrer schwörenden Hand nach oben, mit ihrer anderen Hand aber hinter ihrem Rücken heimlich nach unten zeigten.

Vorbei sind die Zeiten, in denen ein Staatschef offen sein Veto gegen eine Neuaufnahme einlegte, wie 1963 de Gaulle gegen Großbritannien. Vorbei auch die Zeiten, in denen Beitrittsverhandlungen ganz unkompliziert und selbstverständlich als Verhandlungen über einen allseits gewünschten Beitritt verstanden wurden. Und vor allem sind offensichtlich die Zeiten vorbei, da Einmütigkeit über die europäische vertragliche Bestimmung herrschte, dass (nur) „jeder europäische Staat“ Mitglied der EU werden könne.

Die EU-Mitglieder wussten in der Türkeifrage im Grunde nie so recht, was sie eigentlich wollten. Auf alle Fälle wollten sie sich wegen ihr nicht mit den USA anlegen, die ihren türkischen Flugzeugträger im europäischen Hafen stationieren (und den Europäern damit auch noch ein kleines Problem liefern) wollen. Das war freilich alles in der Zeit, in der die transatlantischen Beziehungen noch in Ordnung waren. Seit dem Irakkrieg ist Schluss mit der Idylle. Die USA sind für Europa ein Problem, und die Probleme des Nahen und Mittleren Ostens kommen mit Macht auf Europa zu.

Jetzt rächt sich der schlampige Umgang der Europäer mit der Türkeifrage. Jetzt ist sie plötzlich wie ein Schachtelteufel mitten in die europäische Politik gesprungen und wird sie in den nächsten Jahren immer wieder nachhaltig erschüttern, wenn nicht gar ins Chaos stürzen. Man denke nur an die geplanten Referenden über die Europäische Verfassung im kommenden Jahr und den Bundestagswahlkampf 2006.

Daher sind Schadensbegrenzungen angesagt. Sie zielen einmal in Richtung Zeitgewinn. Die Verhandlungen mit der Türkei sollen „ergebnisoffen“, ihre Ergebnisse sollen erst in eineinhalb Jahrzehnten zu erwarten sein.

Selbst Außenminister Fischer stellte noch vor wenigen Tagen klar, dass es bei dem heutigen Beschluss gar nicht um einen Beitritt der Türkei zur EU gehe, sondern nur darum, der Türkei eine europäische Perspektive aufzuzeigen und sie an Europa heranzuführen. Das klang auch schon mal anders.

Ferner wird versucht, die Türkeidiskussion auf eine neue Ebene zu verlagern. Bisher war sie auf die Doppelfrage fokussiert: Passt die Türkei zu Europa, und wie wirkungsvoll war und ist die vor 80 Jahren von Atatürk eingeleitete und seit 40 Jahren mit dem Ziel eines EU-Beitritts betriebene Europäisierung der Türkei? Das ist jetzt alles offenbar nicht mehr so wichtig. Obwohl doch noch vor kurzem kein Geringerer als der türkische Ministerpräsident Erdogan spektakulären Anlass zu der Vermutung gab, dass jetzt durchgeführte Reformen nach einem Beitritt wieder rückgängig gemacht werden könnten. Daran dürfte bekanntlich auch keine EU die Türkei hindern.

Jetzt schiebt sich vor all das plötzlich eine Diskussion über die „strategische“ Bedeutung einer Türkei-Mitgliedschaft in die EU. Was allerdings mit dem imposanten Begriff „strategisch“ gemeint ist, bleibt bisher unklar. Die Visionen reichen anscheinend von der Vorstellung einer Türkei als („strategischer“) Brücke zum Nahen Osten – also mit Verankerung sowohl dort als auch in Europa – bis zu der Vorstellung, dass eine um die Türkei erweiterte EU endlich eine große machtpolitische Rolle in der Weltpolitik spielen könne. Doch allein ein Blick auf die tiefe macht- und weltpolitische Spaltung, die die EU seit dem Beginn des Irakkrieges durchzieht, zeigt: Sie kann auch mit noch so gespreizter Semantik nicht zu etwas gemacht werden, was sie nicht sein kann.

Vor allem aber wird beim Blick auf die Türkei oft geflissentlich übersehen, dass die EU keine vom Raum unabhängige, nur an irgendwelchen europäischen kulturellen, ethischen, historischen oder sonstigen Werten orientierte Gemeinschaft ist. Wäre es so, dann müssten Kanada, Australien und Neuseeland schon längst Mitglieder sein.

Die EU ist eindeutig und ausschließlich ein geografisch definierter Zusammenschluss der Staaten Europas. Mit der Einbeziehung von Rumänien, Bulgarien und dem der EU noch nicht zugehörigen Teil des Balkans umfasst sie das Europa, das (sieht man von der veränderten Ostgrenze Polens ab) bis 1939 und im Kern in allen Zeiten davor als solches bestand und verstanden wurde. Diese EU ist Europa. Ihre Außengrenzen mögen nicht metergenau deckungsgleich sein mit allen denkbaren historischen und kulturellen Grenzlinien. Sie sind aber eindeutig, plausibel und allseits anerkannt.

Mit einer Aufnahme der außereuropäischen Türkei hätte die EU gemeinsame Grenzen mit Iran, Irak, Syrien, Georgien und Armenien. Sie würde damit als Anrainer quasi zum Teil des Nahen Ostens, in dem beispielsweise in Konfliktfällen allein schon die osmanische Vergangenheit der Türkei ebenso verschärfend wirken würde wie im Irakkrieg die koloniale Vergangenheit Großbritanniens.

Nähme die EU die Türkei wirklich auf, dann wäresie in jeder Hinsicht entgrenzt

Vor allem aber: Lässt die EU ihre zwingend vorgegebene geografische Definierung mit der Aufnahme der Türkei hinter sich, dann ist sie in jeder Hinsicht entgrenzt. Dann wäre zunächst ein Beitritt Israels eine sichere Folge. Dann dürfte Nordafrika folgen, das mit der Nordspitze Tunesiens nicht weniger nach Europa hineinreicht als die Türkei mit ihrem Stückchen nördlich des Bosporus. Zumindest Marokko müsste EU-Mitglied werden – wie bereits 1987 beantragt und wegen Nichtzugehörigkeit zu Europa abgelehnt. Und im Osten ergäben sich fast zwangsläufig Mitgliedschaften für die massigen Problemstaaten Ukraine, Weißrussland und Moldawien und möglicherweise auch für Georgien und Armenien. Das kann man alles machen. Die Europäer müssen nur wissen, ob sie das wollen.

Sie würden damit wollen, dass die EU politisch an einer nicht mehr gemeinsam beherrschbaren Übergröße zugrunde gehen oder sich zu einem reinen Binnenmarkt oder auch nur einer Freihandelszone zurückentwickeln würde. Die erhebliche neue kulturelle und Interessenvielfalt, die in der EU mit der Aufnahme von zehn und bald zwölf neuen Mitgliedern entstanden ist, ist für die europäische Politik schon heute ein gewaltiges Problem mit noch unbekannten Auswirkungen.

Eine Aufnahme der Türkei und deren Folgen würde die EU nach innen und außen einfach nicht aushalten. Die EU-Staaten sind in ihr derzeitiges Dilemma durch eigene Nachlässigkeit hineingeschlittert. Man möchte ihnen – und uns allen – wünschen, dass sie heute aus ihm wieder etwas herausschlittern können.

HANS ARNOLD