Küstenschnee

Der Traum von Deutschland. Platz 4 des taz-Schreibwettbewerbs „Ein Wintermärchen“. Wir präsentieren heute auf diesen Seiten die Siegergeschichten Platz 4–7

VON ANDREA HACKENBERG

Der Brief aus Deutschland kam am selben Tag wie der Schnee. Margareta wusste nicht, was sie für das größere Wunder halten sollte: das Kuvert in ihren Händen oder die weiß eingestäubten Kieselsteine am Strand. Beim Lesen war sie abgelenkt, warf immer wieder einen Blick aus dem Fenster, auf den Olivenbaum, der wie gepudert vor dem Haus stand. Sie ließ das Wörterbuch im Schrank, kümmerte sich nicht um die Vokabeln, die sie nicht kannte. Trotzdem verstand sie, dass ihre Mutter sich geirrt hatte. Deshalb legte sie den Brief auf den Küchentisch, griff nach ihrem Wolltuch und verließ das Haus.

Der Schnee war zu spärlich, um unter ihren Füßen zu knirschen. Nicht mal bis zum oberen Rand ihrer Schuhsohlen versank sie darin. Aber immerhin, sie hinterließ Spuren, den ganzen Weg bis zur Werkstatt von Rajko, dem Bootsbauer. Dessen Sohn Drago saß vor einer Kiste und reinigte Werkzeuge, als Margareta eintrat.

„Der Brief ist gekommen“, stieß sie hervor. „Sie haben Wort gehalten.“

Drago rührte sich nicht. Er fragte: „Was wollen sie zahlen?“

„Fünfhundert Mark im Monat.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht mal, wie viel das in Dinaren ist.“

Drago wusste es. Es war doppelt so viel, wie er und sein Vater in der Werkstatt verdienten. Aber das sagte er nicht.

„Sie lassen mich eine Sprachschule besuchen“, fuhr sie fort. „Ich darf im Haus wohnen und essen. Und an einem Tag die Woche muss ich nicht auf das Kind aufpassen.“

Die Werkzeugkiste schepperte, als Drago sie mit seinem Fuß beiseite schob. „Wirst du gehen?“

„Würdest du das nicht tun?“

Er zuckte mit den Achseln. „Es ist weit.“

„Darum will ich ja hin. Ich war noch nie fort.“

„Hast du etwa kein gutes Leben hier im Dorf?“

Als Margareta nicht antwortete, stand er auf. „Ich jedenfalls habe, was ich brauche: ein Handwerk, ein Stück Land, ein Boot. Später vererbt mir mein Vater das Haus. Ich kann heiraten, wenn ich will.“

„Ja“, sagte Margareta. „Das kannst du.“

„Wahrscheinlich schon bald. Wahrscheinlich die Jelena.“

„Oh“, sagte Margareta. „Das habe ich nicht gewusst.“

Er sah sie an. „Ich kann auch dich heiraten. Wenn du bleibst.“

Sie trat einen Schritt zurück. „Ich muss gehen“, erwiderte sie leise und drehte sich zur Tür um.

„Margareta?“

„Ja?“

„Deine Mutter wird dich nicht lassen.“

Der Brief war vom Küchentisch verschwunden, als sie nach Hause zurückkehrte. Dafür saß Stipan, ihr Vater, auf der Ofenbank, eine Korbflasche mit Wein neben sich. Aber er trank nicht, rührte sich nicht einmal, während Margareta ihr Tuch ablegte. Ihre Mutter stand am Herd und goss einen Rest Suppe vom Vortag in den Eimer mit den Essensresten. Den würde sie zu den Hühnern im Stall hinaustragen.

„Hast du gesehen, dass der Brief gekommen ist?“, sprach Margareta sie an.

„Natürlich hat sie.“ Das kam von Stipan.

Zana fuhr zu ihrem Mann herum. „Halt’s Maul und sauf.“

Er biss sich auf die Lippen. Seine Hand zitterte, als er nach der Korbflasche griff und sie bis zum äußersten Rand der Ofenbank schob. Eine Armlänge von sich entfernt.

„Ich habe den Brief gesehen“, sagte Zana zu ihrer Tochter. „Ich konnte ihn nicht lesen.“

„Sie haben einen Arbeitsvertrag geschickt. Sie werden mich gut bezahlen. Sie wollen mich mit dem Auto abholen. Und du hast gesagt, ich wäre ihnen die Mühe nicht wert!“

„Es gibt Maisbrei zu Mittag“, entgegnete Zana nur. „Ich muss in den Stall hinaus.“

Margareta verstellte ihr den Weg. „Du hast gesagt, du lässt mich gehen, wenn sie einen Vertrag schicken. Du hast gesagt, du unterschreibst!“

„Und dein Vater hat mir vor dem Altar ewige Treue geschworen. Er hat versprochen, dass er das Saufen lässt. Und jetzt sieh ihn dir an!“

„Den Wein heute hast du ihm doch gegeben!“

Ihre Mutter hob eine Augenbraue. „Und wenn?“

Margareta drehte sich zum Vater um, sah aber nur den Küchentisch, auf dem der Brief fehlte. „Hast du ihn weggeworfen?“

„Verwahrt habe ich ihn.“ Zana packte den Eimer und trug das stinkende Zeug zur Tür. „Dragos Mutter hat gesagt, dass er dich heiraten will. Du brauchst den Brief nicht.“

Kaum dass ihre Schritte verklungen waren, warf Stipan das Glas von der Ofenbank. „Sie hat ihn in die Keksdose gelegt“, sagte er. „Hol ihn her, schnell.“

Margareta rannte zur Post, den Brief mit der Unterschrift ihres Vaters unter dem Wolltuch verborgen. Die Straße war rutschig vom Schnee, der schon zu schmelzen begann, doch sie glitt nicht aus. Und auf dem Rückweg waren ihre Fußspuren bereits verschwunden.