: Tiefschlaf in der Krypton-Zigarre
Ein Eislinger Wirt hat sich durch Rezentfrostierung jede Menge Ärger vom Hals geschafft
Heinz Thermoser, der Betreiber des Eislinger Polarbären, setzt mir heißen Punsch vor. Er selbst trinkt Weißwein, so kalt wie die Gaststube. „Polarbär“, lacht er, auf die Raumtemperatur angesprochen, „hieß das Lokal schon, bevor ich aus Wasseralfingen herkam. Am Albtrauf ist’s im Winter eben saukalt. Da nützt selbst die beste Heizung nix.“
Die Doktoren vom Zentrum für Tieftemperatur-Technologie in Tübingen, kurz ZTT genannt, hätten „Eislingen“ und „Polarbär“ freilich lustig gefunden, als er 1993 bei ihnen aufgetaucht ist, um die Rezentfrostierung kennen zu lernen. „Unterkühlung lebender Zellverbände, heißt das“, belehrt mich Thermoser. Immerhin – so viel hätte ich gewusst.
Seine Frau, die Trudi, sagt er, habe ihn auf die Idee gebracht. Nach dreißig Ehejahren sei’s nicht mehr so gelaufen zwischen ihnen damals. Schulden habe er gemacht und immerfort gegrantelt deswegen, bis sie ihm eines Abends wutschnaubend geraten hätte, sich doch „einrexen“ zu lassen. „Ich bleib beim Spätzle-Schorsch, bis du mit dir im Reinen bist. Das waren ihre Worte!“
Erklärend fügt er hinzu: „Mit dem Georg Spätzle hatte sie schon länger ein Verhältnis, das war an sich gar nicht so schlecht. Wenn man sich täglich auf der Pelle hockt, wird das Leben viel rascher anstrengend.“ Er hätte sich vor den Fernseher gesetzt in jener Nacht und auf Pro7 eine Sendung über das Tübinger ZTT gesehen, wo man 1993 zum zehnten Mal in Folge ein tiefgefrorenes Schaf wieder aufgetaut und erfolgreich belebt hatte. Die Technik sei reif gewesen, für so was habe er schon immer einen Blick gehabt.
„Ich hab wach gelegen und gegrübelt. Immer wieder sah ich dieses Metallrohr vor mir – durch ein Sichtfenster konnte man den Kopf des Schafs sehen. Friedlich schlief es in seiner mit einer Mischung aus flüssigem Stickstoff und Krypton gefüllten Zigarre. Irgendwann hat es bei mir Klick gemacht. Ob man einen Kredit einfriert oder einen Menschen, das macht nämlich einen Riesenunterschied, finanziell betrachtet“, gibt Thermoser gut gelaunt zu bedenken und schenkt sich ein.
Beim Spätzle-Schorsch habe er angerufen und sich zum Frühstück eingeladen und sowohl diesem als auch der Trudi seinen Plan auseinander gesetzt. Noch am Vormittag sei er nach Tübingen zum ZTT gefahren. „Die Doktoren waren ganz aus dem Häuschen über mein Angebot, ihr Verfahren an mir zu testen.“
„Hat denn die penible Ethik-Kommission keine Einwände erhoben?“, frage ich. „Gott bewahre! Die hab ich von der ethischen Seite her voll beruhigt.“ Er lächelt und tippt ans Weinglas. „Dreihundert Flaschen Cannstädter Heuchelberg gingen dafür drauf – Tübinger Theologen saufen wie schwarze Löcher!“
Kompliziert sei es auf der Eislinger Sparkasse gewesen. „Bis die endlich begriffen hatten, dass ich mich nicht von der Kreditschuld drücken wollte, verging ein halber Tag. Spätzle-Schorsch würde den Polarbären übernehmen und die Pacht zur Kredittilgung verwendet. Nach zehn Jahren wäre alles auf null. Trudi lebte bis dahin mit Georg, und ich wäre quasi so lange nach Diktat vereist.“
Thermoser trinkt und lacht über seinen Wortwitz. „Es war aber auch etwas Gewinn drin: Vom ZTT bekam ich die üblichen Tagessätze für medizinische Tests. Zudem gelten Rezentfrostierte steuerrechtlich als Sache, frieren also steuerfrei. Die Wissenschaftler ihrerseits setzten mich als Zukunftsinvestition ab. Anstandshalber bekam ich die Hälfte meines steuerlichen Wertes gutgeschrieben. Kein Pappenstiel!“
„Ich erhielt statt Blut eine Austauschlösung. Am 29. 12. 1993 tauchte ich in flüssiges Krypton.“ Er reibt sich – wohl in Erinnerung – die kalten Ellenbogen. Ich spürte, wie mir’s kalt den Rücken rauflief. Als Nächstes sah ich schon Trudis lachendes Gesicht, als ich Weihnachten 2003 erwärmt wurde. Das Ganze war also subjektiv betrachtet nichts als ein erfrischender Schlaf.“
„Und was war mit Ihrer Gattin und Georg Spätzle?“ Thermoser grient. „Nach zehn Jahren des Zusammenlebens war zwischen denen die Luft raus. Ich erschien – obwohl wir ein Jahrgang sind – zehn Jahre verjüngt, und Trudi fand mich plötzlich wieder attraktiv. Statt Schulden hab ich heut ein kleines Vermögen; konnte mir gar die Kneipe von Georg dazupachten.“
Ob Herr Spätzle mir wohl auch ein Interview geben würde, frage ich ihn zum Abschied. Thermoser wiegt den Kopf. „Wissen Sie, der Spätzle-Schorsch hat selten eigene Ideen gehabt. Alles, aber auch alles hat er mir nachgemacht. Eine Kneipe musste er aufmachen, und dann noch meine Frau auf seine Seite ziehen. Tja, und jetzt … Aber vielleicht klappt’s mit Ihrem Interview, wenn er wieder aufgetaut wird. Anno 2025 müsste das sein, wenn kein Erdbeben dazwischen kommt!“ TOM WOLF