Wiederaufbau hinter Panzerglas

Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Bochums, Gregori Rabinovitch, kam vor 12 Jahren aus Russland. Er glaubt an eine Zukunft im „Land der Täter“

„Sie sehen, wir sind noch nicht in der Normalität angekommen“, sagt Gregori Rabinovitch zur Begrüßung. „Wir arbeiten im Hochsicherheitstrakt“

AUS BOCHUMHOLGER PAULER

Die mechanische Stahltür öffnet sich nur langsam. Im Zeitlupentempo. Man möchte nachhelfen. Vor dem Eintritt in das Gebäude der jüdischen Gemeinde Bochum warten noch zwei weitere Türen. Durchsichtig, aus Panzerglas. Ebenfalls nicht von Hand zu öffnen. Die Schleuse geht erst nach endlosen Sekunden auf. „Wohin wollen Sie?“, fragt eine Stimme. Hinter Glas sitzt ein Mann. Auf dem dunkelblauen Pullover ist ein Schild mit der Aufschrift „Sicherheitsdienst“ befestigt. Kein Name. „Ich bin mit Herrn Chraga und Herrn Rabinovitch verabredet“. Kommentarlos öffnet sich die letzte Tür.

Neonlicht beleuchtet einen kleinen Raum, am Rand Tische und Stühle. An den kahlen Wänden hängen Fotos von Demonstrationen – für den Wiederaufbau der Synagoge in Bochum. Das vorrangige Ziel der Gemeinde. Bis es aber soweit ist, müssen sie mit dem kleinen, zweistöckigen Gemeindezentrum am Rande der Stadt auskommen. Neben der katholischen Kirche, im Schatten des hell erleuchteten Opelwerks. Fast so, als solle das jüdische Leben in Bochum versteckt werden.

„Sie sehen, wir sind noch nicht in der Normalität angekommen“, sagt Gregori Rabinovitch zur Begrüßung. „Wir arbeiten im Hochsicherheitstrakt“. Streifenwagen machen hier täglich ihre Runde. Bei Veranstaltungen steht die Polizei vor der Tür. „Und wir haben täglich irgendwelche Veranstaltungen.“ Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen begleitet derweil eine handvoll Besucher nach draußen. Vietnamesische Austausch-Studenten. „Das Interesse am jüdischen Leben ist da. Es wird immer größer“, freut sich Rabinovitch.

Gregori Rabinovitch ist ein hagerer Mann. Schmales Gesicht. Wenige Haare bedecken seinen Kopf. Für sein „gebrochenes Deutsch“ entschuldigt er sich während unseres Gesprächs permanent. Es ist ihm peinlich. „Nun sie müssen wissen, 80 Prozent der Gemeindemitglieder kommen aus der ehemaligen UdSSR“, sagt er, da sei es nicht so einfach mit der Sprache. „Aber wir arbeiten daran.“ Deutschunterricht gehört zum Gemeindeleben. Vor allem die älteren Leute tun sich schwer. Die Gemeindebriefe erscheinen zweisprachig. Deutsch und Russisch.

Durch ein Abkommen zwischen der ehemaligen Sowjetunion und der Bundesrepublik, konnten jüdische Migranten die UdSSR nach 1990 verlassen. Die „jüdische Volkszugehörigkeit“ im Pass reicht aus, um das Visum nach Deutschland zu bekommen. Nach einem festgelegten Schlüssel werden die Flüchtlinge auf die Kommunen verteilt, die einzelnen jüdischen Gemeinden zugeordnet sind. Die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen stieg in den letzten 15 Jahren von unter 70 auf 1.150 Personen. Ähnlich viele, wie vor Auschwitz. Vor dem industriellen Massenmord an den europäischen Juden.

Damals war jüdisches Leben ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Über 500.000 Juden lebten vor 1933 in Deutschland. 1950 waren es gerade noch 18.000. Mittlerweile ist die Zahl auf über 100.000 gestiegen. Von den damaligen Mitgliedern der jüdischen Gemeinden kehrten nur wenige nach dem Holocaust in das Land der Täter zurück. Die jüdische Gemeinde Bochum hatte 1945 gerade noch 34 Mitglieder. Zwei leben heute noch. Darunter Alfred Salomon. Der 85-Jährige überlebte Auschwitz. Die Eltern wurden in Riga erschossen. Die Zerstörung der Synagoge in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November erlebte er in Bochum. Gastwirtschaft und Metzgerei musste die Familie später ebenfalls abgeben. Erst im Jahr 1990 brach Alfred Salomon sein Schweigen über die erlebten Gräueltaten und gab sogar einem Filmteam von Steven Spielberg Auskunft.

Auch Gregori Rabinovitch möchte über das Leben in seiner „alten Heimat“ nicht reden. „Wir waren krank im fünften Punkt“, sagt Rabinovitch mit einem Lächeln. „Name, Vorname, Geschlecht und Geburtsdatum waren in Ordnung, nur im fünften Punkt des Personalausweises, der die Volkszugehörigkeit bestimmte, stand: jüdisch.“ Ein Problem. „Jude“ war in der Sowjetunion ein Schimpfwort wie „Faschist“. Es gab viele Judenwitze. „Wir haben dann das Wort ‚Jude‘ durch ‚Franzose‘ ersetzt“, sagt Rabinovitch. An eine Ausübung der Religion sei nicht zu denken gewesen. „Wer einen Beruf ergreifen wollte, hat sich besser vom Judentum distanziert“, sagt Rabinovitch. Auch die Sprache, das „Jiddische“, sei darüber verloren gegangen. „Meine Großeltern konnten es noch sprechen, meine Eltern schon nicht mehr.“

Rabinovitch zog vor zwölf Jahren die Konsequenz und verließ seine Heimatstadt Moskau. Zunächst landete er in Köln. Dort habe man ihm empfohlen, nach Bochum zu gehen. „Der Wohnraum in Köln war knapp und Bochum, damals noch mit Recklinghausen verbunden, hätte eine lebendige Gemeinde, wurde mir gesagt“, erzählt Rabinovitch. Das mit der lebendigen Gemeinde stimmte nicht, aber „man sei gut aufgenommen worden“, sagt Rabinovitch. Durch den Zuzug der „russischen Juden“ sei das „dahinsiechende“ Judentum neu zum Leben erweckt worden. Von einer Renaissance ist die Rede. Auch im täglichen Leben?

„Die Bevölkerung und die Stadt unterstützen uns. Wir haben Kontakt zu allen Kirchen, auch zu Muslimen.“ Kürzlich war Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement, gebürtiger Bochumer, zu Besuch. Und der ehemalige Oberbürgermeister Ernst-Otto Stüber bekam im vergangenen Jahr die Dr.-Ruer-Medaille verliehen . Die jüdische Gemeinde Bochum vergab die Medaille zum ersten mal. „Für seine Verdienste um die jüdische Gemeinschaft sowie sein Engagement für den Neubau der Synagoge in Bochum“, hieß es in der Begründung. Otto Ruer war bis März Oberbürgermeister Bochums. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde der Sohn jüdischer Eltern seines Amtes enthoben. Im Berliner Exil beging er Selbstmord.

Der „Freundeskreis Bochumer Synagoge“ sammelt Spendengelder in der Bevölkerung. „400 Leute haben sich bislang beteiligt“, sagt Rabinovitch. „Es sind wesentlich mehr“, ruft eine Stimme aus dem Nebenraum. Aleksander Chraga, Geschäftsführer der Gemeinde schaltet sich in das Gespräch ein. Er ist sehr ernst, trotz der erfreulichen Zahlen. „Wir haben genug Probleme“, sagt er langsam. „Das fängt im kleinen an.“ Von der Stadt Herne sei keine Unterstützung zu erwarten: „Die sehen uns als Bochumer Institution“, sagt Chraga. Obwohl 20 Prozent der Gemeindemitglieder in Herne leben. „Auch das werden wir überstehen.“

Wie auch die Aufmärsche der Neonazis, Anfang des vergangenen Jahres. Unter dem Motto „Keine Steuergelder für den Synagogenbau“ zogen Mitglieder der NPD und so genannter „Freier Kameradschaften“ durch die Bochumer Straßen. Ein Aufmarsch am 13. März konnte nach Initiative mehrerer Bochumer Richter auf Antrag des Polizeipräsidenten verboten werden. Über 2.000 Bürger gingen gegen die Rechten auf die Straße. Im Juni durften die Neonazis erneut marschieren. „Wir sind froh, dass wir in einer Demokratie leben“, sagt Gregori Rabinovitch, „aber es sollte auch Grenzen geben“. Immerhin hat die Bochumer Staatsanwaltschaft vor kurzem gegen den stellvertretenden Landesvorsitzenden der NPD in NRW, Claus Cremer, Anklage wegen Volksverhetzung erhoben, weil er auf der von ihm organisierten Demonstration in Bochum das Judentum in Zusammenhang mit Kindesmissbrauch gebracht hat. „Die Anklage ist ein positives Signal“, sagt Aleksander Chraga.

Die NPD hat ihre Landeszentrale im Bochumer Stadtteil Wattenscheid. Von hier aus steuern sie ihre antisemitische, volksverhetzende Propaganda. Am liebsten würden sie dies auch im nordrhein-westfälischen Landtag tun. Zur Wahl am 22. Mai treten sie an. „Wir können hoffen, dass sie keinen Erfolg haben“, sagt Rabinovitch. „Wir haben Vertrauen in die Bevölkerung.“

Um das Vertrauen weiter zu steigern, soll so schnell wie möglich der Wiederaufbau der Synagoge begonnen werden. Unweit der Innenstadt, in Nachbarschaft des Bochumer Planetariums. Bis Ende Februar läuft noch die Auswertung eines Wettbewerbs, für den 36 Architekturbüros ihre Vorschläge eingereicht haben. „Ob wir dann auch tatsächlich den siegreichen Vorschlag nehmen, werden wir sehen“, sagt Rabinovitch.

Der Neubau ist notwendig. Die Kapazität des alten Gemeindezentrums ist erschöpft. 120 Personen finden im Gebetsraum Platz. Zum Neujahrsfest im vergangenen September, wurden Eintrittskarten verteilt. „Über 300 Leute wollten teilnehmen“, sagt Rabinovitch. Die neue Regel verursachte Ärger. „Ganze Familien blieben ausgeschlossen.“ Im neuen Gebäude sollen über 440 Personen Platz finden. „Wenn auch die Größe nicht mehr reichen sollte, wissen wir endgültig, dass wir in der Normalität angekommen sind“, hofft Gregori Rabinovitch hinter den drei Panzertüren.