: Der zahnlose Präsident
Der entschlossene Zug um die zusammengepressten Lippen ist charakteristisch für George Washingtons Porträts. Doch was als Ausdruck energischer Tatkraft gilt, könnte auch einen ganz anderen Hintergrund haben
VON REINHARD TIBURZY
„Er hatte wohl seine hölzernen Zähne nicht an“, soll US-Präsident Harry S. Truman geunkt haben, als er 1951 vor einem Porträt George Washingtons stand. Darauf posiert der General und Vater der Nation mit einem Zug eiserner Entschlossenheit um den Mund.
Was gern als Ausdruck von Zielstrebigkeit interpretiert wird, geht eher auf Washingtons dentale Probleme zurück. Washington kaute auf einem halben Dutzend künstlicher Gebisse, klobige Prothesen aus Elfenbein, Knochen, Tierzähnen, Gold und Blei. Selbst Zähne anderer Leute hatte er im Mund. Doch hatte der Präsident auch Holzzähne?
Jedes amerikanische Schulkind kennt die Legende vom Präsidenten mit dem Holzgebiss, doch niemand weiß, woher sie stammt. Es heißt, Washingtons hölzerne Zähne seien aus einem Ast geschnitzt worden, den er vom legendären Kirschbaum seines Vaters abgesägt hatte, dass sein Zahnfleisch mit Holzsplittern gespickt gewesen sei und dass Washington von Indianern gelernt habe, hölzerne Stöpsel zu schnitzen, die, in die Kieferknochen getrieben, als Backenzähne gedient haben sollen.
Washington litt von Jugend an unter Zahnproblemen, verlor schon mit zweiundzwanzig Jahren den ersten adulten Zahn. Als er 1789 mit 57 Jahren der erste Präsident der USA wurde, besaß er nur noch einen einzigen eigenen Zahn in seinem Mund.
Zur Zeit der Amtseinführung konsultierte Washington erstmals John Greenwood, um sich ein Gebiss verpassen zu lassen. Vormals Tischler und Mechanikus nautischer Instrumente in New York City, hatte dieser als Dentist von sich reden gemacht. Seine Praxis war eine Art Versandhaus für Gebissprothesen, wer ihm einen Wachsabdruck seiner Zahnlücke schickte, erhielt postwendend das passende Zahnimitat. Greenwood transplantierte auch echte Zähne und war der erste Zahnarzt, der einen per pedes zur Drehung gebrachten Zahnbohrer betrieb, konstruiert aus dem Spinnrad seiner Großmutter.
Greenwood wurde Washingtons Lieblingsdentist (insgesamt hatte er neun): „Ich bevorzuge stets Ihre Dienste vor denen aller anderen Ihrer derzeitigen Profession …“, hatte der Präsident Greenwood noch im Jahr vor seinem Ableben wissen lassen. Geschmeichelt griff der das Lob auf und reicherte damit seine Werbung an. Nach Washingtons Tod trug Greenwood dessen letzten Zahn an seiner Uhrkette mit sich, in einem Goldkästchen mit Fenster und der Gravur „Der hierin liegende Zahn ist der letzte, der in seinem Kopf wuchs.“
Greenwood fertigte etliche künstliche Gebisse für Washington an. Die erste wuchtige Vollprothese, geschaffen, als Washington Präsident wurde, ist aus dem Stoßzahn eines Flusspferdes geschnitzt. Die untere Gaumenplatte enthält menschliche Zähne, die mit Stiften aus Gold mit dieser verschraubt sind. Einer der eingesetzten Zähne war Washington selbst ausgefallen.
In die Platte hatte Greenwood ein Loch gebohrt, durch das der letzte verbliebene Zahn des Präsidenten, der linke vordere Backenzahn, hindurchpasste. Rosa Siegelwachs bedeckte den künstlichen Gaumen an der Basis der Zähne – er sollte frisch und gesund aussehen. Zum technischen Know-how damaliger Gebissprothesenfabrikation gehörte zudem der Einsatz starker Spiralfedern, die die Gaumenplatten im Mund zusammenhielten und das Öffnen des Gebisses erleichtern sollten.
Ein Zahn fehlt dem Gebiss – angeblich der Washingtons. Er befindet sich heute in Besitz der Sons of the Revolution und wird in einem von Gold eingefassten Glasmedaillon im Fraunces Tavern Museum, New York, ausgestellt. Diese orale Krücke hatte Washington fast sechs Jahre im Mund, doch Zähne aus Holz hat es in diesem Gebiss nie gegeben.
1876, als sich der amerikanische Unabhängigkeitstag zum hundertsten Mal jährte, konnten Besucher in Philadelphia auf einer Ausstellung eines von Washingtons merkwürdigen Kauwerkzeugen bestaunen, desgleichen in Chicago, als man den vierhundertsten Jahrestag der Ankunft Columbus‘ in Amerika festlich beging.
Die Zähne des von Greenwood fabrizierten Gebisses waren aus dem Stoßzahn eines Walrosses geschnitzt und mit Holzstiften an die Gaumenplatten montiert. Die obere Gebissplatte war aus 18-karätigem Gold, die untere aus Flusspferdknochen. Ein gewisser Henry Lovejoy Ambler, der es in Philadelphia gesehen hatte, bemerkte zu dem Gebiss: „Es ist, wie es heißt, ein Wunder, dass dies jemals irgendjemand für fünf Minuten in seinem Mund hielt. Die Zähne sind Stücke aus Knochen, die kaum wie Zähne auszusehen versuchen, montiert auf Goldgaumen, mit Bändern quer verbunden, um die Zähne an ihrem Platz zu halten, während aufgedrehter Draht am Ende des Kiefers eine Feder bildet und beim Öffnen und Schließen der Maschine assistiert.“ Auch dieses Gebiss hat jedoch nie einen Holzzahn enthalten.
1965 gab das Baltimore College of Dental Surgery dieses Gebiss als Leihgabe an das renommierte Smithsonian National Museum of American History in Washington, D. C. Dort wurde es 1981 aus einem High-Security-Lagerraum, zu dem nur Mitarbeiter des Museums kontrollierten Zugang hatten, geklaut – ein Fall für das FBI. Das konnte den Dieb jedoch nie ermitteln. Auf mysteriöse Weise tauchte die untere Gebisshälfte im Mai 1982 wieder im gleichen Lagerraum auf, die obere Hälfte ist bis heute verschwunden – sie war aus Gold.
Ein weiteres Gebiss Washingtons stammt angeblich von Charles Willson Peale, einem Porträtmaler und Gelegenheitsdentisten, der mehrere Porträts von Washington gemalt hat. Als Peale, selbst Träger falscher Kauwerkzeuge, erkannte, wie stark sich die Mundpartien des Präsidenten durch dessen Gebissprothese verformten, fertigte er für Washington ein Gebiss an, das dieser jedoch nur während der Sitzungen bei Peale getragen haben soll. Für den Alltagsgebrauch war es wohl auch kaum geeignet, es war zu schwer und zu weich, bestand es doch aus Blei. Das von Spiralfedern zusammengehaltene Provisorium, heute in Besitz der Mount Vernon Ladies’ Association of the Union in Mount Vernon, enthält menschliche und aus Hirschzähnen geschnitzte Zähne, doch ein Holzzahn ist auch hier nicht dabei.
Anfang des letzten Jahrhunderts spürte ein Redakteur des British Dental Journal die lange verschollene Hälfte des oberen Teils einer Gebissprothese Washingtons in London auf und erstand diese zusammen mit einem Brief des berühmten Gebissträgers zum Spottpreis von fünf englischen Pfund. Der Schatz befindet sich jetzt im London Hospital Medical College Museum. Die andere Hälfte des mutmaßlich bei einem Kutschenunfall Washingtons durchgebrochenen Kauwerkzeugs aus dem Stoßzahn eines Walrosses wird in Südamerika vermutet. Soweit ersichtlich, bestätigt auch dieser Fund die Legende um die Holzzähne nicht – denn Holz gibt es in dem Gebiss nicht.
James Gardette, ein 1778 nach Amerika gekommener französischer Arzt, fertigte Gebisse an, von denen er behauptete, sie seien nicht von natürlichen zu unterscheiden. 1795 fabrizierte er eines aus dem Stoßzahn eines Flusspferds für den Präsidenten, der es jedoch nur kurze Zeit trug. Es war ihm zu groß und zu klobig. Der Verbleib dieses Gebisses ist ungeklärt, man will es in Frankreich gesehen haben.
Washington hatte einmal beabsichtigt, zwei seiner lange zuvor gezogenen Zähne wieder zu verwenden. In einem Brief an einen Vertrauten an seinem Landsitz in Mount Vernon bat er diesen, ihm zwei seiner Vorderzähne zu schicken, die er im Geheimfach seines Schreibtischs versteckt hatte. Ein weiterer Brief ging an einen seiner Zahnärzte. Diesen bat er, ihm etwas von dem Gips oder weißen Puder, mit dem dieser Abdrücke des Mundes für die Herstellung falscher Zähne anfertigte, zu schicken, einschließlich einer Gebrauchsanleitung. Er wollte dem Zahnarzt sodann einen Abdruck zukommen lassen, der diesen in die Lage versetzte, für ihn die gewünschte Zahnprothese anzufertigen. Dazu kam es jedoch nicht, denn der Brief wurde, sehr zum Amüsement des britischen Hauptquartiers, von den feindlichen Engländern abgefangen.
Wie aus Briefen des Präsidenten hervorgeht, legte er offenbar bei kleineren Reparaturen seiner Ersatzzähne selbst Hand an. Einmal bat er einen seiner Zahnärzte um eine Zange, mit der er Drähte an seinen Zähnen festziehen wollte. Ein anderes Mal forderte er bei einem ihm bekannten Major Siegelwachs zur Färbung der künstlichen Gaumen an, ferner zwei kleine Feilen, von denen eine möglichst so dünn zu sein hatte, dass sie zwischen zwei Zähne passte. Und bei Greenwood bestellte Präsident Washington dreißig Zentimeter lange Spiralfedern sowie starken Draht aus Gold von doppelter Länge, um die Federn zu montieren.
Anfang 1797 schickte Washington ein Gebiss an Greenwood zur Reparatur. Die Gaumenplatten waren zu breit und wölbten die Lippen, als wären sie geschwollen. Washington beanstandete zudem, dass sich die Zähne schwarz gefärbt hatten. Greenwood riet Washington, sein Gebiss nach dem Dinner in Wasser zu legen oder es mit einer Bürste und zermahlener Kreide zu reinigen. Sollten die Zähne danach immer noch schwarz sein, könnte er sie entfärben, indem er sie in Fleischbrühe legte oder in das Kochwasser von Gemüse oder Fleisch oder vorzugsweise in dunkles Bier, nicht jedoch in Tee, da dieser sauer sei. Sollten dennoch in den Zähnen durch Säure Löcher entstehen, könne Washington sie mit Wachs füllen und diesen darin mit einem heißen Nagel fest einschmelzen.
Washingtons ewige orale Not hielt ihn nicht davon ab, eine glorreiche militärische und politische Karriere zu machen, wirkte sich jedoch fatal auf seine Erscheinung und sein historisches Image aus. 1886 bemerkte General Horace Porter: „Die Geschichte zeigt, dass er in seiner Jugend einen schönen geschwungenen Mund hatte, der alle Frauen in Virginia, ob verheiratet oder Single, bezauberte, doch dann kamen seine Zahnärzte daher und fabrizierten jene künstlichen Zähne, von denen gesagt wurde, sie wären auf massive Klötze gesetzt und mit einem Schnürsenkel festgemacht. Sie gaben dem Vater seines Landes jenen Mund eines Briefkastenschlitzes, mit dem er in die Geschichte einging.“
Seit man von Washingtons Gebissen weiß, ist er Zielscheibe von Karikatur, Gespött und Gefrotzel. „Warum gab es überhaupt Gold in den falschen Zähnen?“, fragte Henry Allen in der Washington Post, als der Diebstahl des Gebisses aus dem Smithsonian bekannt wurde, und spekulierte: „Vielleicht gehörte das zum Lebensstil Washingtons. Besorgte sich falsche Zähne und tat etwas Gold rein, um bei Lafayette anzugeben, wenn dieser zum Dinner herüberkäme.“ Allen fährt fort: „Man stelle sich den alten George nur vor, wie er jene Zähne in einem großen Pferdelachen entblößt, dann weiß man, warum sie Zerhacker genannt werden.“
Wie sah nun der berühmteste Gebissträger der Nation in Wirklichkeit aus? Einen Eindruck vom Aussehen George Washingtons geben nur seine Porträts. Doch zeigen diese auch ein wahrheitsgetreues Bild des Präsidenten? Mindestens achtzehn Maler haben Washington porträtiert. Schon zu Lebzeiten Washingtons bemängelte seine Familie, dass seine Porträts ihm nur mäßig entsprächen. Washington wurde so unterschiedlich dargestellt, dass die National Academy of Fine Arts 1824 eigens ein Komitee einberief, um festlegen zu lassen, welche Porträts dem Original am gerechtesten würden. Resultat: Die von Charles Willson Peale sollen am authentischsten sein.
Die populärsten Porträts Washingtons, darunter auch das berühmte Athenaeum Portrait, das die Ein-Dollar-Banknote ziert, sind jedoch die des damals bedeutendsten Porträtmalers der Neuen Welt, Gilbert Stuart, und das sind die mit dem Ausdruck eiserner Entschlossenheit um den Mund.
Im Athenaeum Portrait, von Mrs Washington bei Stuart in Auftrag gegeben und niemals vollendet, erscheinen die Mundpartien des Präsidenten deformiert. Nicht anders im Konterfei Washingtons, das im Weißen Haus hängt und schon mal mit „Der Held mit den schlecht sitzenden Zähnen“ tituliert wird. Stuart behauptete stets, er habe den Präsidenten gemalt, wie er sich ihm darstellte. Angeblich hat er sogar die eingefallenen Wangen und dünnen Lippen des Präsidenten durch Einlegen von Baumwolle in Washingtons Mund unterstützt, um dessen Gesicht ein besseres Aussehen zu verleihen.
James Thomas Flexner, ein bedeutender Biograf Washingtons, sieht das jedoch anders. Stuart war es während der zahlreichen Sitzungen mit George Washington trotz heftigen Bemühens nie gelungen, die Zuneigung des Präsidenten zu gewinnen, was ihn mächtig wurmte. Flexner ist daher überzeugt, dass der frustrierte Maler sich revanchierte, indem er die durch das schlecht sitzende Gebiss hervorgerufene Verformung des Mundes absichtlich überzeichnete. Flexner: „Keines anderen Mannes Wut bereitete Washingtons Image mehr Schaden.“
Der permanent unter dem Zahndilemma leidende Präsident war stets bemüht, dies nicht in die Öffentlichkeit zu tragen, ließ gar einmal ein Zahnarzthonorar als Rechnung für einen Hut ausstellen. Und seinem Hauspersonal hatte er eingebläut: „I do not wish this matter to be made a parade of.“
Ein Wunsch, den ihm die Geschichte nicht erfüllte, wie man angesichts der Legende um die hölzernen Zähne sieht. Ernsthaftere Zeitgenossen ziehen jedoch eine simple Erklärung der Kirschholzgeschichte vor. Ihrer Meinung nach gaben Tee und Portwein, zu deren Genuss der Präsident neigte, seinen künstlichen Kauwerkzeugen eine bräunliche Färbung. Und das Elfenbein, dessen natürliche Maserung durch die Färbung hervorgetreten war, hatte dann den Anschein von Holz erweckt.
REINHARD TIBURZY, 55, arbeitet als freier Reisejournalist und Reiseführerautor mit den Schwerpunkten Benelux und USA. Er lebt nahe Aachen, jenseits der belgischen Grenze