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Archiv-Artikel

Hier entscheidet die Basis

Schleswig-Holstein ist ein Flickenteppich aus rund 1.130 kleinen und kleinsten Gemeinden. Eine davon ist die Gemeinde Grothusenkoog: Dort leben 27 Menschen – zu wenig für ein eigenes Dorfparlament, aber genug für basisdemokratische Gemeindeversammlungen im Gasthof des Nachbarortes

„Partei“ klingt beim Gemeindetreffen in der Wirtsstube wie ein Schimpfwort

aus GrothusenkoogEsther Geißlinger

Das ist jetzt wichtig, und Frau Starkgraff hat etwas zu sagen. „Das Schild und der Pfosten dazu, das macht fast 100 Euro. Das ist ein ganz schön happiger Batzen.“ Sie schaut in die Runde, die Brillengläser blitzen. „Und wenn ich mir das Schild so ansehe, dann wird da keiner draus schlau.“ Es geht darum, Gemeindegeld zu investieren. Euros und Cents, über die Inge Starkgraff mit zu entscheiden hat. Die grauhaarige Dame im rosa Wollpullover ist keine Politikerin, sie gehört keiner Partei an, sie wurde in kein Amt gewählt – sie hat nur das Glück, in Grothusenkoog zu leben – einem Ort auf der Halbinsel Eiderstedt in Nordfriesland, in dem es insgesamt 27 Menschen gibt. Damit gehört das Dorf zu denen, die zu klein für ein Dorfparlament, einen Gemeinderat sind. In Grothusenkoog herrscht Basisdemokratie, jeder erwachsene Einwohner darf mitreden, wenn es um den Haushalt, die Straßen oder neue Schilder geht.

Nicht, dass viel zu entscheiden wäre, denn der Gemeindeetat erlaubt keine großen Investitionen: 16.400 Euro umfasst der Verwaltungs- und 20.600 Euro der Vermögenshaushalt für das Jahr 2005, beide Summen zusammen liegen nur knapp über dem durchschnittlichen Bruttojahreslohn eines Arbeitnehmers. Wenn eine Stadt wie München oder Berlin oder sogar Kiel wirtschaftet wie ein Unternehmen, Kredite aufnimmt, investiert, Schulden anhäuft und Firmen anzusiedeln versucht, dann gleicht die Gemeindeversammlung von Grothusenkoog einem Familienrat, der sich darüber unterhält, ob es in diesem Jahr für ein neues Auto reicht. Tatsächlich ist die Rücklage, das Sparkonto der Gemeinde, für einen Wagen gedacht: Irgendwann braucht die Freiwillige Feuerwehr ein Fahrzeug, das jetzige stammt aus dem Jahr 1978. Rund 31.000 Euro besitzt die Gemeinde an Rücklagen bei 2.101 Euro Schulden. Von so einem ausgeglichenen Haushalt träumt Hans Eichel nur.

Grothusenkoog, eine Straße, ein paar Häuser hinterm Deich, Nordseegeruch und Möwengeschrei in der Luft, ist zu klein für eine Kneipe. Darum tagt die Gemeindeversammlung im Nachbarort Vollerwiek, im Gasthof „Op de Burg“. Auf den Tischen mit ihren weißen Häkeldecken stehen Gläser und Pharisäertassen, vor den Fenstern pfeift ein ungehaltener Wind, aus dem Nebenraum dringt immer wieder lautes Gelächter. Die Grothusenkooger sind zu zwölft, wesentlich mehr geht fast nicht, aber die Beratung läuft diszipliniert ab. Der Haushalt wird einstimmig verabschiedet, nachdem Bürgermeister Klaus Ibs ein paar grundlegende Dinge gesagt hat: „An und für sich stehen wir nicht schlecht da.“ Die Kreisumlage allerdings steigt, wegen Hartz IV. „Ich habe die bange Befürchtung, dass das Soziale noch weiter abrutscht“, sagt Ibs. „Ich seh‘ das so, dass die kleinen Gemeinden am Ende die Leidtragenden sind.“ Wenn er Hochdeutsch spricht, klingt ein plattdeutscher Akzent durch, aber seine Versammlung hat er im Griff: „Sollen wir noch groß palavern über den Haushalt?“

Ein Vorteil der Basisdemokratie sei, meint Rolf Hach später am Abend, dass „hier jeder mitreden kann: In dem Ort, in dem ich früher gewohnt habe, ging die Diskussion im Dorf erst nach der Sitzung richtig los, aber dann war es durch“. Hach ist in Grothusenkoog gerade zum stellvertretenden Bürgermeister gewählt worden, einstimmig natürlich.

Die Starkgraffs, Inge und Kurt, sind bei fast jedem Gemeindetreffen dabei. Seit 46 Jahren wohnen die beiden im Koog, damals kamen sie als Flüchtlinge. Dass hier alle gemeinsam beraten, finden sie gut. Ob sie sich in einer größeren Gemeinde die Mühe machen würden, zu einer Sitzung zu gehen oder gar den Haushaltsplan zu lesen? „Da geht das alles von den Parteien aus“, sagt Kurt Starkgraff, und „Partei“ klingt wie ein Schimpfwort. Er sieht ja ein, dass in größeren Orten nicht jeder mitreden kann, aber in Grothusenkoog geht das, und das soll so bleiben.

Bürgermeister Ibs gibt einen aus – „op de Lütte“, auf das Wohl seiner neu geborenen Enkelin. Ein Bastkörbchen mit Schnapsfläschchen wandert von Hand zu Hand, dann kommt der nächste Punkt an die Reihe. Es geht um die Frage, wie viele Bürger anwesend sein müssen, damit die Versammlung beschlussfähig ist. Ibs und Levke Gutierrez Franke beugen sich über den Satzungsentwurf und rätseln. Gutierrez Franke arbeitet in der Amtsverwaltung, sie führt bei jedem Treffen der Grothusenkooger das Protokoll und gehört schon fast zur Familie: Mit Rolf Hach ist sie zur Schule gegangen, mit dem Bürgermeister redet sie Platt, „unsere Levke“, sagt Ibs. Da der Vorschlag des Kreises zweideutig bleibt, steht Gutierrez Franke auf und sagt: „Ich frag mal Charlie.“ Charlie arbeitet auch beim Amt, er gehört zu der Runde im Nebenraum, deren Gelächter immer wieder herübertönt. Charlie meint, dass ein Viertel der Grothusenkooger Einwohner ausreicht, damit beraten werden darf, und so wird es jetzt in der Satzung stehen. Der Beschluss fällt einstimmig.

“Wir wollen eigenständig bleiben“, sagt Klaus Ibs. „Wir verursachen ja keine Kosten, der Haushalt ist solide.“ Sinnvoller sei es, bei der Verwaltung zu sparen, Aufgaben zusammenzulegen statt Gemeinden.

Die Grothusenkooger leben von der Landwirtschaft und ein bisschen vom Tourismus. Darum sei es nicht schlecht, Schilder am Deich aufzustellen, meinen einige, aber Inge Starkgraff und andere Skeptiker setzen sich durch: Zu teuer, und gepflegt werden müssten die Schilder auch - es bleibt die einzige Frage des Abends, in der die Runde nicht einig ist. Bevor es nach Hause geht, kreist noch einmal das Bastkörbchen mit den Schnäpsen: Zwei Geburtstage müssen nachgefeiert werden.