„Wir müssen das Schweigen bekämpfen“, sagt Ilse Schimpf-Herken

Wahrheitskommissionen gelten als Königsweg, um vergangenes Unrecht zu bearbeiten. Doch ein Modell sind sie nicht

taz: Frau Schimpf-Herken, sind Wahrheitskommissionen das Modell für den Umgang mit vergangenen Traumata?

Ilse Schimpf-Herken: Nein. Jede Konfliktbearbeitung muss an den konkreten Verhältnissen eines Landes ansetzen. Das ist wichtiger als Modelle. Aber natürlich kann man voneinander lernen. Für die Menschen aus Ruanda, die vor elf Jahren einen Völkermord erlebt haben, ist es interessant zu hören, was in Chile zweiunddreißig Jahre nach Pinochets Putsch stattfindet.

Was ist das Ziel solcher Verarbeitungen? Versöhnung?

Nein. Zumindest lehnen viele diesen Begriff ab, weil er einen christlichen Hintergrund habe. Versöhnung, sagen viele in den betroffenen Ländern, nütze den Machthabern.

Die Täter würden sich bestimmt gerne mit den Opfern versöhnen.

Eben. Mir gefällt der Begriff der Rehumanisierung viel besser. Die berühmteste Wahrheitskommission, die von Südafrika, hat als bisher einzige Täter amnestiert, die öffentlich bereut haben. Eine berühmt gewordene südafrikanische Mutter, deren Kind getötet worden ist, hat öffentlich zu einem Täter gesagt: Du hast um Verzeihung gebeten. Wie könnte ich dir nicht vergeben? Sonst würde ich doch deiner Rehumanisierung entgegenstehen. Das Konzept der Rehumanisierung kommt nicht zufällig aus Afrika. Die Menschen sind so arm, sie können oft nicht mal flüchten, sie müssen mit den Tätern weiter zusammen das Feld bestellen.

In der Zulu-Sprache Südafrikas existiert ein unübersetzbarer Begriff, der zentral für die Arbeit der Wahrheitskommission war: Ubuntu. Das heißt so viel wie: Ich bin ich nur durch andere Menschen. In Ruanda gibt es den nicht.

Natürlich kann man nie pauschal von Afrika reden, die Bedingungen sind sehr unterschiedlich. Mir gefällt dieses „Ubuntu“-Konzept. Der Befreiungspädagoge Paulo Freire sagt: Ich bin, weil du bist. Der französische Philosoph Emmanuel Levinas geht noch einen Schritt weiter und sagt: Indem ich das Andere in dem anderen Menschen verstehen will, entwickeln sich in mir neue Fähigkeiten, die ich ohne ihn nie entwickelt hätte. Er macht mich zu der Person, die ich bin, und ich habe Verantwortung für ihn.

Gibt es idealtypische Etappen für einen Friedensprozess?

Jede idealtypische Verallgemeinerung bringt immer schon neue Interessensdurchsetzungen, den Ausschluss und das Unsichtbarmachen von Menschen mit sich. Es geht darum, die Ursachen für den Unfrieden zu benennen, die Opfer zu Wort kommen zu lassen. Eindimensionale Modelle helfen nicht weiter.

Spielen Sie auf Peru und Guatemala an? Die Konflikte dort, die von Wahrheitskommissionen aufgearbeitet werden, waren durch den Ausschluss indigener Gruppen bestimmt.

Ja, und deshalb kommen die dortigen Wahrheitskommissionen nicht voran. Die extreme Armut der indianischen Bevölkerung ist eine Menschenrechtsverletzung und Ursache von Unfrieden. Das wird aber kaum angesprochen.

Also sind Wahrheitskommissionen dort unnütz?

Nein, sie haben einen Sinn. Erstmals werden die Namen der Opfer registriert. In Guatemala hat die Wahrheitskommission einen Bericht über Massaker und Massengräber veröffentlicht, so gibt man den Angehörigen der Opfer einen Ort für ihre Trauer. Aber natürlich wird in solchen Kommissionen auch vieles verschwiegen. Im Valech-Bericht in Chile haben letztes Jahr 35.000 Folteropfer über ihre Leiden unter Pinochet berichtet, aber diese Zeugenaussagen sollen fünfzig Jahre lang unter Verschluss bleiben. Die Täter werden geschützt.

In vielen Ländern sind die Kriegsverbrecher nach wie vor in den Regierungen. Etwa in der Demokratischen Republik Kongo oder in Afghanistan. Ein allgemeines Dilemma?

Ja, sehr oft. In Chile wurde die Militärdiktatur von Pinochet 1988 abgewählt. Der neue Präsident wollte Wahrheit nur in dem Maße zulassen, „wie es möglich ist“. Sobald die Menschenrechtsgruppen etwas lauter wurden, drohten die Militärs, erneut die Kasernen zu verlassen. Der nächste Präsident wollte, dass die Militärs sagen sollten, was mit den Verschwundenen geschehen ist. Erst die dritte Regierung hat es gewagt, die Berichte der Folteropfer anzufordern. Aber niemand arbeitet mit den Opfern, sie werden mit ihren neu aufgerissenen Wunden allein gelassen.

In Ruanda ist fast die ganze Bevölkerung traumatisiert. Es ist unmöglich dort, jedes Opfer individuell zu betreuen. Wie verbindet man individuelle und kollektive Bearbeitungen?

Der erste Schritt zur Heilung ist, dass die Gewaltakte öffentlich benannt werden. Das fehlt bis heute in vielen Ländern. Niemand von der guatemaltekischen Elite zeigte jemals Reue wegen des Genozids an den Maya-Indianern. In El Salvador hat eine Opferorganisation sieben Jahre lang für ein nationales Mahnmal gekämpft, eine Mauer, in der die Namen von 26.000 Bürgerkriegsopfern eingraviert sind. Kein Regierungsmitglied hat das 2004 eingeweihte Monument jemals besucht. Genauso wichtig ist, die Gewaltprozesse zu stoppen, denn die Gewalt reproduziert immer wieder das Schweigen. Und in neoliberalen Systemen setzen die Herrschenden auf das Schweigen, denn es produziert eine passive schweigende Mehrheit und hält die Menschen davon ab, sich für ihre Rechte einzusetzen. Wir müssen dieses Schweigen bekämpfen.

INTERVIEW: UTE SCHEUB