herr tietz macht einen weiten einwurf : Gottes Ringrichterstuhl
Fritz Tietz liest in der Lokalpresse einen Nachruf auf Max Schmeling und bedauert das Fehlen des Boxerphraseologischen
FRITZ TIETZ ist 45 Jahre alt, lebt als Nachfahre ostpreußischer Einwanderer in der Nordheide und treibt gelegentlich Sport.
Nie wieder wird er einem seiner zahllosen Verehrer spaßeshalber die legendäre Rechte ans Kinn drücken und dabei listig-verschmitzt in die Kamera linsen. Max Schmeling, auch Maxe genannt und Schwarzer Ulan, Deutschlands weltweit wohl berühmtester Sportsmann (und dazu vermutlich noch meistfotografierter Kinnhaken-Poser aller Zeiten) ist am 2. Februar verstorben. Oder müsste man bei einer Boxerlegende wie ihm nicht besser sagen: für immer in die Knie gegangen? Oder: ging für alle Ewigkeit zu Boden? Oder noch plausibler: in den Boden? An weiteren Metaphern für den Abgang eines Box-Champions wären denkbar: Sein letzter Schlussgong ward ihm geschlagen. Oder: Er warf für immer das Handtuch. Oder wie wär’s damit: Er trat vor Gottes Ringrichterstuhl?
Jedenfalls hat Schmelings Ableben eine trefflichere, um nicht sogar zu sagen: volltrefflichere Beschreibung verdient, als sie zum Beispiel seine Lokalzeitung, die zufällig auch meine ist, vormachte. Die Harburger Anzeigen und Nachrichten (HAN), ein im hiesigen Landkreis und damit auch in Schmelings langjähriger Wahlheimat Hollenstedt viel gelesenes Tageblatt, wählte in einem Artikel über den Tod ihres prominenten Lesers zunächst diese Allerweltssterbensphrase „… schloss für immer die Augen“. Einen Absatz später kam dann diese Wendung zum Einsatz: „… ging hinüber in die andere Welt“. Eine immerhin halbwegs anschauliche Ausschmückung des Boxersterbens, der dennoch das angemessen Boxerphraseologische fehlte. Denn wenn einmal ein Boxer wo hinübergeht, dann doch wohl in die andere Ecke.
Gern hätte man zudem etwas mehr erfahren über diese andere Welt. Wie sie in etwa beschaffen ist und wo sie sich ungefähr befindet. Aus dem HAN-Nachruf lernte man jedoch nicht mehr über sie, als dass dort „die beiden Liebenden“ (gemeint waren Schmeling und seine anno 87 verstorbene Gattin Anny Ondra) „nun für immer vereint“ seien. Nichts gegen die tröstliche Mutmaßung einer ewigen ehelichen Vereinigung, auch wenn das bestimmt nicht nach jedermanns Geschmack ist. Ich kenne jedenfalls Menschen, denen die Vorstellung, selbst nach dem Tod noch mit ihrem Ehepartner verbandelt sein zu müssen, eher das Gegenteil von tröstlich bedeutet. Davon abgesehen, werden sich gerade Boxfans vor allem für die sportliche Seite dieser posthumen Welt interessieren. Finden dort auch Titelkämpfe statt, und ist so möglicherweise mit einer Revanche Schmelings gegen den schon 1981 hinübergegangenen Joe Louis zu rechnen? Nicht wenige hierzulande, die eher in dieser Vorstellung Trost fänden, nämlich dass es dem Schwarzen Ulanen vielleicht post mortem noch mal gelingt, die Schmach der K.-o.-Niederlage von 1938 zu tilgen: Knock, knock on Joe Louis’ door. Und auch diese Frage wird etliche und durchaus sogar sorgenvoll umtreiben: Könnte sich in jener anderen, „hinübren“ Welt auch ein Adolf Hitler erneut mit Max Schmeling vereinen? Bei einem Tässchen Tee vielleicht auf Wolke sieben?
Ich will aber trotz der eschatologischen Ungereimtheiten nicht bloß unken und der HAN-Berichterstattung zum Tode von Max Schmeling auch ein wenig Lob zollen. Schon die schnörkellose Schlagzeile „Über Hollenstedt liegt der Nebel der Trauer“ (und nicht etwa umgekehrt) machte neugierig auf einen eindrücklichen Stimmungsbericht aus der offensichtlich schwer traumatisierten Samtgemeinde Hollenstedt. Und so ging der Bericht los: „Ein neblig-feuchter Schleier liegt über Hollenstedt, so als hätte sich der gesamte Ort in Trauer gehüllt. Als würden selbst Straßen, Plätze, Häuser und Mauern ihr großes Bedauern über das Ableben des berühmtesten Bürgers der Gemeinde ausdrücken wollen. Max Schmeling ist tot – diese Nachricht lief gestern wie eine Schockwelle durch das Dorf an der Este.“ Angesichts des juvenilen Alters von knapp 100 Jahren, das der Verstorbene erreichte, kann man die große Erschütterung gut nachvollziehen, die das Dorf da erfasste. Und wer wie ich sich einige Male in Hollenstedt aufzuhalten gezwungen war, kann nur bestätigen, dass dieser naturtrübe Ort stets genauso wirkte, wie es die HAN beschrieb. Und das auch schon zu Max Schmelings Lebzeiten.