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Archiv-Artikel

Ein bisschen Zukunft, bitte

Noch nie war die Arbeitslosenstatistik so ehrlich wie heute – schön und gut. Doch die Politik weigert sich noch immer, die Lebenswirklichkeit der Joblosen anzuerkennen

Die Langzeitarbeitslosen in Deutschland sind wirklich arm und tun nicht nur soDie Billigjobs dienen vielerorts der Disziplinierung

Arbeitslose führen eine unfreiwillige Doppelexistenz. Erstens müssen sie ihren Alltag bewältigen. Die Bewerbungen, die Absagen. Das Knapsen mit dem Geld. Die Hoffnung. Die Verzweiflung. Der Galgenhumor. Zweitens werden die Joblosen zu Objekten eines politischen Schauspiels gemacht, des öffentlichen Umgangs mit der Erwerbslosigkeit. Darin gibt es jetzt einen neuen Akt: Von mehr „Ehrlichkeit“ ist die Rede. Aber eine wirklich ehrliche Politik für die Arbeitslosen sähe anders aus.

Fünf Millionen Erwerbslose sind inzwischen bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) registriert. Rund 220.000 erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger kamen in der Januarstatistik hinzu, weil sie nach den Hartz-Gesetzen nun Arbeitslosengeld II bekommen und deswegen bei den Arbeitsagenturen gemeldet sein müssen. Als die Rekordzahl bekannt wurde, tönte Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD): „Jetzt kommt die ganze Wahrheit über den deutschen Arbeitsmarkt ans Licht. Die Zeit der Dunkelziffern ist vorbei.“ Das ist nicht ganz falsch – nur zieht Clement in seiner Politik zu wenige Schlüsse daraus.

Die Einführung des neuen Arbeitslosengelds II birgt für die sozialen Befindlichkeiten in Deutschland interessante neue Erkenntnisse. Bisher gibt es etwa keine Anzeichen dafür, dass nun tausende ehemalige Arbeitslosenhilfebezieher Jobs annehmen, die sie zuvor verschmähten, weil sie sonst nur noch das geringe Arbeitslosengeld II bekommen. Der Anteil der Beschäftigungsaufnahmen ist nicht gestiegen. Der Stellenmarkt ist einfach zu schlecht: Im Januar ist die Zahl der angebotenen Jobs im Vergleich zu den Vorjahresmonaten erneut gesunken.

Zudem zeigte sich, dass die meisten Erwerbslosen in ärmeren Verhältnissen leben als gedacht. Sozialpolitiker hatten gehofft, dass durch die verschärfte Anrechnung des Partnereinkommens und Vermögens ein Viertel der ehemaligen Empfänger von Arbeitslosenhilfe kein Arbeitslosengeld II mehr bekommen.

Diese Annahme erwies sich als falsch: Nur jeder achte Empfänger von Arbeitslosenhilfe verlor seinen Anspruch auf die Leistung. Anders gesagt: Die Langzeitarbeitslosen in Deutschland sind wirklich arm und tun nicht nur so. Was aber wiederum auch bedeutet, dass Hartz IV sehr viel teurer wird als erwartet. Um bis zu vier Milliarden Euro sollen die Ausgaben entgegen den vorherigen Berechnungen steigen.

Die neue Zählweise birgt noch eine weitere Erkenntnis: Die Zahl der Menschen, die in Deutschland kaum noch eine Chance haben, jemals in ihrem Leben wieder ihren Unterhalt selbst verdienen zu können, ist höher, als es die Meldungen der Arbeitsagenturen früher vermuten ließen. Denn mit der neuen Zählweise tauchen in der Arbeitslosenstatistik hunderttausende ehemalige Sozialhilfeempfänger auf, die früher von den Sozialämtern sozusagen in Ruhe gelassen wurden und jetzt zur Meldung bei den Arbeitsagenturen antreten müssen, um das Arbeitslosengeld II zu bekommen. Dazu gehören Menschen mit körperlichen und psychischen Einschränkungen, die für eine Erwerbsunfähigkeitsrente noch zu gesund, für den Arbeitsmarkt aber längst nicht mehr fit genug sind.

Das Kriterium für „Erwerbsfähigkeit“ in der Arbeitslosenstatistik ist ein rentenrechtliches: Als erwerbsfähig gilt, wer mindestens drei Stunden am Tag arbeiten kann. Dieses Kriterium ist jedoch weit entfernt von den Realitäten auf dem Jobmarkt. Dort finden bekanntlich nicht mal mehr 50-jährige, gesunde Menschen noch einen Job, geschweige denn Leute, die physisch eingeschränkt sind und nur noch vier Stunden am Tag ackern können.

Die neue Arbeitslosenstatistik ist also keine Zählung von Menschen, die sich ganz überwiegend im Übergang zu einem Job befinden. Sondern ein Register von Millionen, die keine Chancen mehr haben auf einen sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplatz. Eine 52-jährige, alleinstehende, arbeitslose Verkäuferin mit Bandscheibenproblemen kann sich heute schon ihren künftigen Lebensstandard ausrechnen: erst das Arbeitslosengeld II, dann eine niedrige Rente mit Aufstockung, und alles auf dem Niveau der Sozialhilfe – bis zum Tod. 2,4 Millionen Langzeiterwerbslose bekommen derzeit das Arbeitslosengeld II.

Andere Länder machen es sich übrigens in Sachen Statistik bequemer. Britische Sozialpolitiker geben gerne mit der dortigen, niedrigen Arbeitslosenquote an. Dort stehen jedoch 2,7 Millionen Joblose in der Statistik der disabled, der Arbeitsunfähigen, und tauchen nicht in der Erwerbslosenstatistik auf. Auch so kann man Joblose verstecken. Bei uns hingegen wird jetzt mit deutscher Gründlichkeit gezählt.

Das ist ja erst mal nichts Schlechtes – eine ehrliche rot-grüne Arbeitsförderungspolitik müsste sich jetzt jedoch auch ihrer alten Versprechen entsinnen. Vor mehr als drei Jahren noch versprachen rot-grüne Sozialpolitiker, jedem Arbeitslosen „ein Angebot zu machen“, seine Situation zu verbessern. Auf solche Möglichkeiten hoffen heute Millionen. Das kann ein selbst gewählter 1-Euro-Job, eine Teilzeit-ABM und auch ein Hinzuverdienst in der Privatwirtschaft sein. Teilzeitarbeit ist für gesundheitlich Angeknackste oft die letzte Möglichkeit, sich etwas Geld dazuzuverdienen.

Die neue Arbeitsförderungspolitik aber ging bislang in die andere Richtung. Der anrechnungsfreie Hinzuverdienst für Langzeitarbeitslose in einem Minijob etwa wurde von bislang 165 Euro auf maximal 60 Euro gekürzt. Und 1-Euro-Jobs, so erklären viele Arbeitsagenturen, sollen zuvörderst Arbeitslosen unter 25 Jahren angetragen werden und nicht etwa den Älteren im Übergang zur Rente. Da ein junger Mensch aber vor allem eine Einstiegschance braucht und 1-Euro-Jobs genau das nicht sind, bleibt nur der Schluss: Diese Billigjobs sollen vielerorts zur Disziplinierung verwandt werden, nicht zur Verbesserung der Lebensqualität jener, die keine Chance mehr im ersten Arbeitsmarkt haben.

Bisher arbeiten ohnehin nur 74.000 Leute in diesen „gemeinnützigen Jobs“. Und die Arbeitsagenturen verhandeln bereits mit den Wohlfahrtsverbänden, um die Betreuungsprämien für diese Klientel abzusenken – das Programm droht sonst zu teuer zu werden.

Die rot-grüne Politik hat also die Wahl: Entweder sie kümmert sich um die Lebenswirklichkeit der Erwerbslosen. Dann müssen nicht nur die Hinzuverdienstgrenzen wieder heraufgesetzt werden, wie es SPD und Grüne unter Mithilfe der CDU jetzt auch planen, sondern es muss mehr öffentlich geförderte Beschäftigung angeboten werden, in welcher Form auch immer. Ein bisschen Zukunft braucht schließlich jeder.

Ansonsten gibt es auch den anderen Weg. Dann findet sich die Politik damit ab, in Sachen Arbeitslosigkeit nur noch die Rolle des Sündenbocks zu spielen für die Enttäuschten. Sie gesteht damit ihre Handlungsunfähigkeit ein und wechselt gewissermaßen auf die Theaterebene. Wolfgang Clement ist auf dem besten Wege dahin.

BARBARA DRIBBUSCH