: „Ich bin gegen das Mehrwertsteuer-Chaos“, sagt Andreas Thiel
Kuchen an der Theke 7 Prozent, am Tisch 16 Prozent. Irgendetwas stimmt nicht in der Steuerhölle Deutschland
taz: Herr Thiel, Sie haben ein ungewöhnliches Hobby – Sie beschäftigen sich in Ihrer Freizeit mit der Mehrwertsteuer.
Andreas Thiel: Meine Familie stöhnt schon, dass ich mich in den Ferien immer als Erstes nach den Mehrwertsteuersätzen erkundige.
Da sind Sie in guter Gesellschaft: Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis fordert auch schon seit mehr als zwei Jahren, die Mehrwertsteuer anzuheben, um die Sozialversicherungsbeiträge zu senken. Der Wirtschaftsweise Bert Rürup ist ebenfalls dafür.
Das ist typisch: In der Politik wird nur debattiert, ob man die Mehrwertsteuer erhöhen soll oder nicht – aber keiner spricht darüber, wie unsystematisch sie ist. Vergleichbare Güter werden heute nämlich völlig unterschiedlich besteuert.
Als kleiner Test: drei Beispiele bitte.
Beim Wohnen kostet die Miete keine Mehrwertsteuer, das Wasser 7 und der Strom 16 Prozent. Bei Krankheit fällt beim Arzt keine Mehrwertsteuer an, beim Zahnersatz 7 und bei den Medikamenten 16 Prozent. Beim Essen kostet die Tiefkühlpizza im Supermarkt 7 Prozent, aber im Restaurant 16 Prozent.
Chaotisch, zugegeben. Aber was ist so schlimm daran?
Da werden Unsummen fehl gelenkt. Allein der ermäßigte Steuersatz von 7 Prozent kostet den Staat 16 Milliarden Euro jährlich. Davon profitieren aber meist die Falschen, denn oft wird ausgerechnet die einfache Dienstleistung besonders stark besteuert. Zum Beispiel kostet der Kuchen im Café 16 Prozent, aber an der Theke nur 7 Prozent. So werden mögliche Jobs vernichtet.
Also eine einheitliche Mehrwertsteuer von 16 Prozent für alle Produkte?
Ich bin nicht gegen Subventionen, ich bin gegen das jetzige Chaos. Vor allem das ehrliche Handwerk muss gefördert werden. In Österreich wird das Essen im Lokal nur zur Hälfte besteuert, Getränke hingegen voll. Schließlich ist es wesentlich aufwändiger, ein Gericht zu kochen, als Bier zu zapfen. In Frankreich hat man die Mehrwertsteuer auf einfache Bauleistungen gesenkt – seither soll der Sektor dort boomen.
Haben Sie weitere Jobkiller auf Ihrer Liste?
Dass Medikamente mit 16 Prozent besteuert werden – das kostet das Gesundheitssystem jährlich zehn Milliarden Euro. So wird die Krankenversicherung und damit die Arbeit teurer. Deutschland ist übrigens das einzige Land, das Arzneimittel mit der vollen Mehrwertsteuer belegt.
Aber die zehn Milliarden Steuereinnahmen werden gebraucht.
Noch so ein Thema, über das niemand redet: Vor etwa zehn Jahren wurde die Börsenumsatzsteuer abgeschafft. Sie würde bei 1 Prozent etwa 16 Milliarden Euro pro Jahr bringen. Gleichzeitig würde sich das spekulative Börsengeschehen beruhigen – die Umsatzsteuer hätte eine ähnliche Wirkung wie die Tobinsteuer, für die sich Kanzler Schröder jetzt begeistert.
Ja, aber als Projekt in weiter Ferne …
Um die Steuersenkung für arbeitsintensive Tätigkeiten zu erreichen, kann man natürlich nicht nur auf die Börsenumsatzsteuer setzen. Das ganze System muss umstrukturiert werden. Zum Beispiel könnten normale Lebensmittel ruhig mit 16 statt jetzt 7 Prozent belastet werden. Dafür würde umgekehrt das Essen in Restaurants billiger. Arbeit ist in Deutschland das Hauptproblem, nicht die Ernährung.
Die Armen in Deutschland dürften das nicht als Gegensatz sehen.
Wer bedürftig ist, müsste zusätzliche Mittel erhalten, um die gestiegenen Lebensmittelpreise zu finanzieren. Aber es ist doch sinnlos, dass auch Gutverdiener von den billigen Nahrungsmitteln profitieren.
Mich erinnert Ihr Vorschlag an den Versuch, den Meisterbrief abzuschaffen. Ursprünglich sollten nur 29 Meisterberufe bleiben, am Ende waren es doch 41 – dank intensiver Lobbyarbeit.
Bei einer Reform würde es natürlich massiven Lobbyismus geben, aber das Gute ist: Die Mehrwertsteuer ist schon so chaotisch, die kann gar nicht mehr chaotischer werden. Da lässt es sich ruhig riskieren, die schädlichsten Ausnahmen abzuschaffen. 1968 wurde die Steuer eingeführt und seither nicht mehr reformiert. Mit bizarren Konsequenzen: Blumen werden nur mit 7 Prozent Mehrwertsteuer belastet – davon profitieren vor allem die Blumenzüchter in Holland oder Kolumbien. Was soll das?
Aber wäre es nicht systematischer, einfach alle Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer abzuschaffen und die Mehreinnahmen einzusetzen, um die Beiträge für die Sozialversicherungen zu senken?
Sie haben doch bei Hartz IV gesehen, was passiert, wenn man Großsysteme zusammenlegen will. Das kann man erst recht nicht empfehlen.
Sagen Sie als Betroffener …
… genau.
INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN