: In russischen Hotelhallen
STIMMENBRIEFE Mit dem Konzert von ErsatzMusika in den Sophiensælen ging das Festival russischer Avantgardekunst zu Ende
Die Dämmerung, Luft und Licht und das alles, war schon ein bisschen herbstlich, als ich über den Hackeschen Markt fuhr. Nur dass es kurz vor zehn war und nicht sechs Uhr dreißig. In den Sophiensælen sollte die Gruppe ErsatzMusika das „Ulica Prawdy“ betitelte Festival russischer Avantgardekunst beschließen, das eine Woche lang hier gastiert hatte.
Ich ärgerte mich gleich, dass ich nicht früher gekommen war, dass ich das, was mit diesem Konzert beschlossen werden sollte, verpasst hatte. Und fühlte mich wie jemand, der viel zu spät zu einer Party kommt und den sinnlosen Versuch macht, mit zwei schnell getrunkenen Bieren Anschluss an die anderen zu finden. ErsatzMusika ist ein ex-sowjetisches Musikerkollektiv von sechs seit Anfang der 90er-Jahre in Berlin lebenden Russen, das 2006 von Irina Dubrowskaja gegründet worden war.
„Anfangs begann ich einfach, für eine kleine Gruppe von Freunden Aufnahmen zu machen, mit der Erinnerung an diese Postkarten im Hinterkopf, die wir in der Sowjetunion hatten, auf denen man eine Nachricht aufnehmen konnte. Eigentlich ein Stimmenbrief. Seit dem Zerfall der Sowjetunion leben viele unserer Freunde in aller Welt verstreut. Die Idee war, Musik zu machen, um sie mit diesen Freunden zu teilen. Aber je mehr Leuten wir diese Musik vorspielten, desto mehr meinten, wir sollten unsere Stimmenbriefe veröffentlichen.“
So richtig gut geeignet war das Foyer der Sophiensæle nicht für das Konzert. Die Bühne war ja so aufgebaut, dass vor ihr gerade zwei Zuschauerreihen Platz hatten. Andererseits passte das Transitorische des Raums zwischen Theatersaal und Treppenhaus auch wieder ganz gut zu der Musik, die nach Dub, Urban Folk, Zigeunermusik und teils auch balladesk klang. Die schlanke Sängerin, die auch Akkordeon spielte, ließ manchmal an Nico denken. Am Rande rauchten wir versteckt Zigaretten. Ich dachte an russische Hotelhallen, an Sommerferien in östlichen Ostseegebieten, an die „Heimatklänge“-Festivals früherer Jahre. Aber das Publikum war anders; keine diätischen Grünenwähler um die fünfzig, sondern jünger. Sozusagen authentischer. Viele verstanden wohl auch die russischen Texte. Jemand sagte, die Musik sei eine Mischung aus „Holz und Beton“, und ich dachte an meinen Lieblingsblog „Beton & Garten“. Gegen Ende des Konzerts begannen dann doch mehrere zu tanzen. Während ich in ein endloses Gespräch mit einem norwegischen Journalisten verwickelt war, der mir die ganze Zeit erklärte, Europa sei nur noch ein Museum.
Als ich nach Hause kam, gab es im Fernsehen „Life On Mars“. Das passte ganz gut, denn die großartige englische Serie erzählt von einem Migranten aus den Siebzigerjahren, den es in die Jetztzeit verschlagen hat. DETLEF KUHLBRODT