: Heimatlosigkeit der kleinen Leute
Die meisten WählerInnen wollen eine gerechte Politik und ein Gefühl von Sicherheit. Beides trauen sie der SPD nicht mehr zu. Das könnte ihr in NRW zum Verhängnis werden
Mit dem sicheren Instinkt für Machtbilder hatte Heide Simonis vor ihrer voraussichtlichen Wiederwahl den aktuellen politischen Wettkampf als Dreisprung Kiel–Düsseldorf–Berlin bezeichnet. Nunmehr ist klar, dass es sich dabei wohl eher um einen Hürdenlauf handelt. Das erste Hindernis wurde von Rot-Grün gerissen. Zwar trägt die Regierungskoalition einen knappen Sieg davon, doch verzeichnet Schwarz-Gelb die großen Gewinne.
In diesen Gewinnen verbirgt sich eine Botschaft an die Regierung in Berlin, die fatal für sie ist. Sie versteht sie augenscheinlich nicht richtig zu lesen, denn sie findet keine passende Reaktion. In Schleswig-Holstein hat sich ein Trend fortgeschrieben, der bereits bei den Landtagswahlen zuvor zu beobachten war: Arbeiter und Arbeitslose haben der SPD massenhaft den Rücken gekehrt, sind daheim geblieben oder zur CDU gewechselt. Aber hatte nicht Franz Müntefering versichert, der Genosse Trend sei wieder in die Partei eingetreten? Die SPD-Spitze hat, wie ein Charttechniker an der Börse, kurzfristige Trends im Blick, statt die eigenen, langfristig entscheidenden Fundamentaldaten zu analysieren.
Wenn der Wechsel der unteren Schichten bereits in einem halben Agrarland solche Auswirkungen hat, wie mag er dann in den urbanen Regionen an Rhein und Ruhr zu Buche schlagen? Immerhin war dort in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts der legendäre kleine Mann zu Hause, dem die Sozialdemokratie ihren Aufstieg verdankte. Franz Müntefering war mal so ein kleiner Mann. Ein Fortschreiben der sozialdemokratischen Erzählung ohne dieses Unten, ohne den Traum vom Aufstieg und das Gefühl von Sicherheit ist schwer denkbar.
Doch das Gefühl der Sicherheit ist erschüttert, und der Traum vom Aufstieg hat sich verflüchtigt. Die Arbeiter sind schon froh, wenn sie nicht arbeitslos werden, und die Arbeitslosen, wenn sie wieder Arbeit hätten. Beide Wünsche werden von der Regierung zwar als erfüllbar betrachtet, nur erfüllt werden sie nicht. Der Reformprozess ist eine nach vorne offene permanente Umwälzung, deren Heilsversprechen desto vager werden, je länger sie anhält.
Die von Regierung wie Opposition beschworene Trias von Angebotspolitik, wirtschaftlichem Aufschwung und Verbesserung der sozialen Lage deckt sich nicht mehr mit der Alltagserfahrung der Leute. Die gleichzeitige Verkündung von Entlassungen und Gewinnmaximierung bei der Deutschen Bank war ein Lehrstück des neuen Realismus einer an betriebswirtschaftlichen Kalkülen orientierten Volkswirtschaft, in die kein starker Arm der Belegschaft mehr eingreifen kann und der Politik weder mit ethischer Empörung noch mit politischer Steuerung beikommt.
Sie tröstet sich und ihre Wähler damit, dass die eigenen Reformen erst noch wirken müssen. Doch wird sich womöglich spätestens im Bundestagswahljahr zeigen, dass auch Hartz IV den seit Jahrzehnten anhaltenden Aufwärtstrend der Arbeitslosenzahl nicht bricht.
Da sie diese Ohnmacht der Regierung spüren, wenden sich die Betroffenen der Opposition zu. Doch auch für diese erweisen sich die neuen Wähler als eine schwierige Klientel. Die Verlierer am unteren Rand der Gesellschaft werden sich kaum durch die von Merkel forcierten Modernisierungsprojekte an die Partei binden lassen. Dies widerspräche nicht nur ihren rationalen Nutzenkalkülen. Die Merkel’schen Reformen, ihr beharrliches Messen des Standorts an Ranking und Benchmarking kommt zu kalt, zu technisch daher, als dass sie Leidenschaft wecken könnten. Mit Globalisierung verbindet sich mittlerweile kein gesellschaftliches Projekt mehr, der Blick wendet sich notgedrungen der Sicherung der Bestandswerte zu.
Auf dieses Verlangen antwortet die SPD mit einer Verlangsamung der Reformen, ohne allerdings deren Unausweichlichkeit damit in Frage zu stellen. Doch haben ihr die vergangenen Wahlen gezeigt, dass sie auf diese Weise ihre Wähler nicht halten kann. Ihr fehlt ein Ordnungsbegriff, der sich offensiv mit ihren Vorhaben verbinden ließe. Die traditionelle Orientierung an Gerechtigkeit leidet darunter, dass die schwindenden materiellen Ressourcen kaum dafür reichen, sich positiv von der Opposition zu unterscheiden – zumal die Wechsel, mit denen die Union das politische Geschäft betreibt, einstweilen nicht gedeckt sein müssen. Sie werden, wenn überhaupt, erst nach gewonnener Wahl eingelöst.
Zudem erfasst Gerechtigkeit nicht mehr, was an drohender Transformation vor allem den unteren Teil der Gesellschaft umtreibt. Exklusion aus Arbeitswelt und sozialen Zusammenhängen sowie prekäre Lebensverhältnisse wecken das Bedürfnis nach einem Ordnungsrahmen, der dem Einzelnen die Gewissheit gibt, mitgenommen zu werden. Er verlangt nach Sicherheit in einem umfassenden Sinne. Sicherheit vor physischer Bedrohung, aber auch die Sicherheit, dass der Wert des Geleisteten Bestand hat, sowie die Sicherheit, dass die Grundlagen, auf denen die Gesellschaft Entscheidungen trifft, von allen geteilt werden.
Mit dem 11. September 2001 ist die physische Bedrohung allgegenwärtiges Thema, mit den Reformen der Sozialsysteme sind die sozialen Anrechte und Besitzstände vor allem der unteren, aber auch der mittleren Bevölkerungsschichten in Gefahr. Und die Abnahme wechselseitigen Vertrauens lässt sich an der schwindenden Wahlbeteiligung ebenso ablesen wie an dem Wandel in der Integrationspolitik.
Während unter den Verteilungskonflikten der Sozialreformen vor allem die SPD zu leiden hatte, sind nicht von ungefähr nun die Grünen ins Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung gerückt. Dass die Visa-Vergabepraxis des Auswärtigen Amts, obgleich immer öffentlich verkündet und betrieben, erst nach vier Jahren die Reife eines mittleren Skandals erreicht, hat viel mit der Selbstreferenzialität der Mediendemokratie zu tun, aber auch mit einem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft.
Dieses Bedürfnis artikulierte sich bereits im Herbst letzten Jahres in den Kontroversen um die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei und das Zusammenleben mit Muslimen. Zudem klingt es nun in der aktuellen Visadebatte an, und es setzt sich fort im Streit um die Arbeitsmigration aus den neuen EU-Staaten. Es gehört zu den Paradoxien dieser Auseinandersetzung, dass die Grünen, traditionell eher im gesellschaftlichen Feld verortet, der Weltoffenheit das Wort reden und Visa- wie Einwanderungspolitik mit Standortinteressen belegen, wohingegen die CDU, entgegen ihrem Ruf einer Wirtschaftspartei, gern den sozialen Zusammenhalt in den Vordergrund rückt.
Die Union hält ihr Dilemma aus, weil die Kritik der Unternehmen der Preis für die angestrebte Mehrheit ist. Die Grünen hingegen haben mit ihrer Position wenig zu gewinnen – dafür die SPD umso mehr zu verlieren.
DIETER RULFF