: Grimmige Geschichten
Schicken Sie Ihre Kinder ins Bett! Die 3sat-Filmreihe „Märchen für Erwachsene“ führt die Erzählungen zu ihrer ursprünglichen Funktion zurück: der Unterhaltung und Belehrung von Volljährigen
VON CLEMENS NIEDENTHAL
Langsam, ganz langsam schließt sich der Kreis wieder. Fast gemächlich kehren Märchen an ihren Ursprungsort zurück: in die Köpfe der Erwachsenen. Die längste Zeit galten Märchen als Kinderkrams, doch eigentlich wurden sie als erzählerisches Vehikel für Gesellschaftskritik zu Zeiten weitverbreiteten Analphabetismus erdacht. Erst mit der aufklärerischen Erfindung des Konzepts Kindheit wurden die vermeintlich fantastischen Erzählungen in den Bereich des Infantilen verdrängt. Dass sie dort schlecht aufgehoben sind, zeigt nicht zuletzt die Filmreihe „Märchen für Erwachsene“, die 3sat heute startet.
Den Anfang macht der wunderbare François Ozon. Sieben Zwerge statt acht Frauen, wenngleich auch das Grundmotiv aus Ozons „Ein kriminelles Paar“ an „Hänsel und Gretel“ angelehnt ist. Und an jene sexuellen Begierden, die doch die meisten, zumal deutschen Märchen immer begleiten. „Ein kriminelles Paar“ (heute, 22.55 Uhr) ist eine Gangsterfabel um den Mord eines adoleszenten Pärchens an einem Mitschüler – und doch auch ein Identitätsdrama über Selbstfindung und Selbstverachtung. Es ist ein atmosphärisch dichter, in einem körperlichen Sinne intensiver Film, eine übersteuerte Zitatmaschine zwischen den Grimms und Godard. Auch Christoph Hochhäusler hat sich für seinen Film „Milchwald“ (Mittwoch 22.25 Uhr), der unlängst noch im Kino zu sehen war, bei „Hänsel und Gretel“ bedient. Wo aber Ozon eine surreale Parabel inszeniert, erzählt Hochhäuser eine unmittelbare Geschichte in authentischen Bilderwelten: „Milchwald“ erzählt vom Bröckeln der bürgerlichen Fassaden in einer Neubausiedlung an der polnischen Grenze. Auf der Heimfahrt vom Einkaufscenter setzt eine Frau ihre beiden Stiefkinder am Straßenrand aus. Es ist eine leere Welt, in der dieser „Milchwald“ steht. So leer, dass man auch nach neunzig Minuten keine Lehre aus ihr zu ziehen vermag.
Den dritten Teil der Reihe bestreitet „Grimm“ vom holländischen Regisseurs Alex van Warmerdam, der in deutscher Erstausstrahlung läuft. „Grimm“ ist ein Roadmovie mit den Mitteln des „Dogma“-Kinos, die Reise zweier Geschwister durch einen gesamteuropäischen Märchenwald. Beide bilden eine Zweckgemeinschaft, die sich schon bald selbst zerfleischt. Oder sollte man besser von Verzehren sprechen? „Grimm“ ist garstiger Film, wie es auch die Grimms, diese deutsche Kulturmarke, gelegentlich waren. Ungleich opulenter geraten ist „Zeit der Wölfe“ (Freitag 22.30 Uhr) von Neil Jordan („Interview mit einem Vampir“), ein Rokoko-Alptraum der 13-jährigen Rosaleen, eine Art Antithese zu „Alice im Wunderland“ und Schlusspunkt hinter dieser sehenswerten Filmreihe.