: Die Wunden wollen nicht heilen
AUS MADRID REINER WANDLER
Es wird eine einfache Trauerfeier sein, mit der Madrid heute der Anschläge auf vier Pendlerzüge vor einem Jahr gedenkt. König Juan Carlos I. wird zusammen mit der Regierung und örtlichen Autoritäten den „Wald der Verschwundenen“ besuchen. 192 Bäume wurden im Stadtpark Retiro zu Ehren der 192 Todesopfer des schwersten Attentats gepflanzt, das je in Europa verübt wurde. Die 650 Kirchen der Hauptstadt werden ihre Glocken läuten, während die Bevölkerung aufgerufen ist, fünf Minuten die Arbeit ruhen zu lassen und schweigend der Opfer islamistischen Gewalttat zu gedenken.
Auch ein Jahr nach der Tragödie werden noch 218 der über 2.000 Verletzten ärztlich behandelt. Drei Betroffene liegen noch immer im Koma. Das Innenministerium hat an die Opfer insgesamt 44,2 Millionen Euro ausgezahlt. 42 Millionen davon gingen an die Angehörigen der Toten. Rund 900 Immigranten, die bei den Anschlägen verletzt wurden oder einen direkten Angehörigen verloren haben, erhielten eine Aufenthaltsgenehmigung oder wurden eingebürgert.
Es waren die Opfervereinigungen, die sich ein schlichtes Gedenken wünschten. Sie wollten keine großen Reden. Zu enttäuscht sind sie von den Politikern. „Schulhofniveau“ hätten die Parteien in Spanien, erklärt die Vorsitzende der „Vereinigung 11-M“, Pilar Manjón, immer wieder. Vor dem Jahrestag geben die Vertreter der Opfer keine Interviews mehr. Es ist auch alles gesagt. Manjón kritisierte bereits vor Monaten die Arbeit des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum 11. März. Dort sei es nicht um die Opfer gegangen, bedauert sie, sondern um den Streit zwischen den Parteien. „Ein Jahr nach den Anschlägen sind sie nicht in der Lage, das zu machen, was wir von ihnen verlangten: einheitliches Handeln“, beschwert sich die Opfervereinigung.
Fruchtloser Streit
Spaniens Politik ist seit dem 11. März gespaltener denn je. Die Sozialisten unter José Luis Rodríguez Zapatero, die drei Tage nach den Attentaten überraschend die Wahlen gewannen, versuchten im Ausschuss wieder einmal die Schwächen der Vorgängerregierung im Umgang mit dem Attentat bloßzustellen. So ließen sie noch einmal untersuchen, was längst bekannt war: Die konservative Regierung von José María Aznar hatte lange, viel zu lange versucht, die Schuld für die Anschläge bei der baskischen Separatistengruppe ETA zu suchen, um so von einer islamistischen Urheberschaft abzulenken. Die Konservativen hatten Angst vor dem, was dann auch tatsächlich eintrat: Die Bevölkerung sah in den islamistischen Anschlägen eine blutige Antwort auf den Einmarsch spanischer Truppen an der Seite der USA in den Irak. Die Konservativen mussten gehen.
Die abgewählte Volkspartei (PP) versucht bis heute, den Sozialisten die Legitimität zum Regieren abzusprechen. Sie warfen Zapatero und seinen Genossen im Ausschuss immer wieder vor, die Situation ausgenutzt zu haben, um mit Hilfe von Protesten am Abend vor der Wahl und einer gezielten Pressepolitik die Stimmung für sich auszunutzen.
Anders als ursprünglich geplant gibt es zum heutigen Jahrestag keinen Abschlussbericht der Untersuchungskommission. Alle Parteien mit Ausnahme der konservativen PP einigten sich angesichts des Jahrestags auf eine Reihe von Empfehlungen, wie künftig das Land sicherer gemacht werden kann. Doch selbst laut diesem Dokument fehlt es an allem: vom Arabischdolmetscher bei den Ermittlungsbehörden und in den Gefängnissen bis hin zu Spezialeinheiten für den Kampf gegen den radikalen Islamismus. Die spanische Terrorabwehr konzentrierte sich vor dem 11. März fast ausschließlich auf die baskische Separatistenorganisation ETA. In den nächsten Jahren müssten mehr Polizisten eingestellt werden, fordern die Parlamentarier. Sie empfehlen eine Verdreifachung der menschlichen und technischen Ressourcen. Außerdem müsse die Regierung die Koordination zwischen den beiden Polizeieinheiten, der auf dem Land operierenden Guardia Civil und der Nationalpolizei in den Städten, verbessern. Dies ist eine direkte Lehre aus dem 11. März. Die Anschläge wurden regelrecht unter den Augen der Ordnungskräfte vorbereitet. Sowohl bei denen, die das Dynamit aus nordspanischen Bergwerken besorgten, als auch bei denen, die den Kontakt mit dem Kommando von Madrid herstellten waren Polizeispitzel eingeschleust. Mitglieder der Islamistengruppe, die schließlich die Bomben in den Zügen deponierten, wurden jahrelang von der Polizei überwacht. Mangelnde Koordination und das Fehlen qualifizierter Übersetzer für die abgehörten Telefongespräche waren schuld daran, dass niemand rechtzeitig Verdacht schöpfte. Innenminister José Antonio Alonso kündigte für die nächste Kabinettssitzung an, die wesentlichen Vorschläge des Untersuchungsausschusses umzusetzen. „Wir sind jetzt besser auf den Kampf gegen den islamistischen Terror vorbereitet“, versichert Alonso. Entwarnung möchte er dennoch nicht geben, denn die Islamisten „können in jeden Moment wieder zuschlagen“.
Auch wenn die Madrilenen nach dem 11-M schnell zum Alltag zurückgekehrt sind, hat die Bedrohung das Leben in der Stadt verändert. Kein Staatsbesuch ohne Sicherheitsmaßnahmen in einem Ausmaß, wie sie vorher unbekannt waren. Und an Weihnachten rückten in ganz Spanien mehr als 65.000 Polizeibeamte aus, um die Innenstädte, Weihnachtsmärkte und offiziellen Gebäude, Kraftwerke und Einkaufszentren zu schützen. Erstmals seit der Rückkehr Spaniens zur Demokratie vor 30 Jahren gehört auch die Armee wieder zum Straßenbild. Sie schützt an wichtigen Tagen Flughäfen und Bahnhöfe.
Den Menschen in Spaniens Hauptstadt bescheinigen die Kolumnisten in diesen Tagen „große politische Reife“. Es sei nicht zu den von vielen befürchteten ausländerfeindlichen Protesten gekommen. Und das obwohl die Attentäter allesamt aus Marokko und anderen arabischen Ländern nach Spanien eingewandert waren. Dennoch ist das Leben für die rund 700.000 Muslime im Land schwieriger geworden. Sie stehen unter permanentem Verdacht. Wenn ein junger Araber mit einer größeren Tasche in den Zug oder die Metro steigt, wird er argwöhnisch beobachtet. So mancher wechselt seinen Sitzplatz. Ebenso geht es bärtigen Muslimen und Frauen mit Kopftüchern. Die Kluft, die Spanier und muslimische Immigranten von jeher trennte, ist spürbar größer geworden.
Gewerkschaften und Immigrantenverbände beklagen, dass es vor allem für Marokkaner nach dem 11-M schwieriger geworden sei, Arbeit und Wohnung zu finden. Darunter leiden selbst diejenigen, die schon lange im Lande leben und sich integriert haben. Denn genau das traf auch auf die meisten der über 150 nach dem 11-M Verhaften zu. Gegen 74 von ihnen wird voraussichtlich noch vor der Sommerpause ein Verfahren eröffnet. 22 sitzen in Untersuchungshaft. Darunter zwei mögliche Anführer, die aus Belgien und Italien nach Spanien ausgeliefert wurden. 13 sollen zum eigentlichen Kommando gehört haben. 7 davon sprengten sich im April selbst in die Luft, um einer Verhaftung zu entgehen.
Hilfe für Muslime
Die Regierung unter José Luis Rodríguez Zapatero versucht die in Spanien lebenden Muslime einzubinden. Der Islam soll aus den Hinterhöfen herausgeholt werden. Zwar gibt es seit 1992 ein Abkommen, zwischen den islamischen Gemeinden und dem spanischen Staat, das die Rolle dieser Religion festschreibt, nur finanzielle Unterstützung, wie sie die katholische Kirche erhält, gab es bisher keine. Die Moscheen wurden deswegen oft von Saudi-Arabien und anderen islamischen Ländern finanziert. Was sich hinter den Mauern der Gebetshäuser abspielte, entzog sich somit völlig der Kontrolle der Regierung.
Das soll sich jetzt ändern. An Schulen, an denen es genug muslimische Schüler gibt, soll islamischer Religionsunterricht abgehalten werden. Die Lehrer sollen ebenso wie die Imame, die künftig die Gefangenen aus muslimischen Ländern betreuen, von Staat und Religionsgemeinschaften gemeinsam bestimmt werden. Eine staatlich finanzierte „Stiftung für Pluralismus und Zusammenleben“ soll sich verstärkt der religiösen Minderheiten im Lande annehmen. Im nordspanischen Katalonien gibt es mittlerweile einen Zentralrat der Muslime, was auch als Modell für die anderen Regionen Spaniens dienen könnte.
Auch außenpolitisch versucht Zapatero auf die muslimische Welt zuzugehen. Spanien hat sich im vergangenen Jahr wieder an Marokko angenähert. Aus den gemeinsam geführten Ermittlungsarbeiten nach den Anschlägen von Madrid ist eine engere Zusammenarbeit auf allen Ebenen erwachsen. Vergessen sind die Zeiten, als Aznar von einer Krise in die nächste stolperte, angefangen bei der Weigerung der marokkanischen Regierung, spanische Boote weiterhin in marokkanischen Gewässern fischen zu lassen, bis hin zum Konflikt mit Marokko um die unbewohnte Petersilieninsel nahe der Meerenge von Gibraltar. Auch mit Tunesien und Algerien hat Spaniens Regierung eine engere Zusammenarbeiten vereinbart.
Zapatero spricht vom „Aufeinanderzugehen“ der Kulturen. Um den internationalen Terror zu bekämpfen, sei „mehr Politik und weniger Krieg“ notwendig. Der Abzug der Truppen aus dem Irak – mit Sicherheit die spektakulärste Maßnahme seiner Regierung, die bald ihren ersten Jahrstag im Amt feiern wird – verschaffte Spanien auch Anerkennung in der arabischen Welt, während das Land von den USA seither völlig ignoriert wird.