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Archiv-Artikel

Mutti und das Nacktheftchen

Der Wahrheit-Sozialarbeiter rät. Wenn Leser Probleme haben. Große Probleme …

Ich hab alle Bilder gesammelt, schön ausgeschnitten und sauber in ein Schulheft geklebt

Von Leser Manfred B. aus R. erreichte die Wahrheit eine dringende Anfrage zu einem Sachverhalt, der ihn schwer bedrückt. Aber lesen Sie selbst:

Mein Vater hatte eine Versicherungsagentur und war in der Nachbarschaft angesehen. Respektperson. Mercedes. Hat Zigarren geraucht und so ein graues Hütchen getragen. Die Nachbarn haben sich fast verneigt: „Wie geht’s, Herr B.? Immer unterwegs, Herr B.? Wie geht’s der werten Gattin? Wie dem Herrn Sohn?“ Das war ich.

Ich war das Gegenteil von einer Respektperson. Wer wollte schon eine Respektperson sein. Ich wollte Haschisch rauchen und an Gruppensex teilnehmen. Das mit dem Haschischrauchen hab ich auch geschafft, Gruppensex nicht. Jetzt bin ich zu alt. Und: wen sollte ich in meiner Spenglerei wohl treffen, der auf Gruppensex aus ist? Zum Lachen. Das ist passé.

Damals war ich zumindest fantasiehalber sehr aktiv. Immer Gewehr über, wenn Sie wissen, was ich meine. Pornohefte gab es nicht beziehungsweise durften nicht herumliegen, die Mutter wäre kollabiert. Ich war aber nicht doof. Hab alles an interessantem Bildmaterial gesammelt und schön ausgeschnitten und sauber in ein Schulheft geklebt: Maggie mit den großen oberen Extremitäten und Millie-Willig mit den hohen Stiefeln und sonst nix an! Top Weiber, alles was recht ist.

„Biologie“ und „Herr Pudlich“, hab ich draufgeschrieben. Den gab es tatsächlich, und mit Biologie hatte es auch was zu tun. Entfernt. Jedenfalls war das eine gute Sache. Oft bin ich ganz versonnen über meinem Biologie-Heft gesessen, und wenn die Mutter unverhofft hereingeschneit ist, dann war sie zufrieden, dass der junge Herr seinen Studien nachgegangen ist. „Die Haare lässt er sich nicht schneiden, aber lernen tut er“, hat sie einmal stolz vor einer Tantenschar geprotzt. Wenn sie damals gewusst hätte …

Hat sie dann ja auch. Und das kam so. Zwischendurch hat mich mein schlechtes Gewissen wegen „Herr Pudlich“ so geplagt, dass ich mich von ihm trennen wollte und ein neues, sauberes Leben anfangen. Weg mit dem Zeug! Jedenfalls war Altpapier, und man musste die alten Zeitungen und Schulhefte zusammenbinden und auf die Straße stellen wegen Sammlung! Das stand das Zeug nun, mein „Biologieheft“ mittenmang. Und ich habe wohl hin und wieder traurig aus dem Fenster nach dem Papierstapel gesehen und meinen geliebten „Herr Pudlich“ vermisst.

Aber es war zu spät, und alles hätte seinen Gang genommen, wäre da nicht plötzlich und über Nacht der große Regen und der starke Wind gekommen und hätte den ganzen Stapel mit dem Papier aufgelöst und umeinandergeblasen. „Pudlich“ war mitten im Stapel und daher gar nicht so nass und flog wie ferngesteuert zu Frau Wilsch auf den Fußabtreter. Frau Wilsch war eine Witwe und hatte niemanden mehr als ihren völlig verschrobenen und verklemmten Sohn Hansi, der es immerhin zum Sparkassenzweigstellenleiter gebracht hatte, ansonsten aber völlig neben der Kappe war. Ausgerechnet der brachte, verschroben und korrekt bis zum Rundschnitt, wie er war, das Heft herbei. Und meine Mama, ganz dankbare Glucke, bittet ihn noch herein und ruft mich gleich dazu: „Sieh mal, was der Herr Wilsch gefunden hat … – das schöne Biologieheft!“

Nie war ich einer Ohnmacht näher. Und mit zittrigen Händen will ich das Heft greifen und schnell an mich reißen, da sieht der blöde Hansi etwas Farbiges oben rausgucken und will – verschroben, wie er ist – das ordentlich reinmachen. Und zieht und zerrt und hat auf einmal Millie-Willig in der Hand! Und glotzt wie ein Schwachsinniger und sagt: „Hoppla.“ Und meine Mama, nicht faul, greift sich das schöne Biologieheft und macht es auf und wird starr und starrer und deutet mit dem Finger in das Innere des Hefts: „Biologie?“ Und wir sehen uns alle mit großen Augen an.

Hansi Wilsch hat mich von da an gemieden und ist später ins Rheinland versetzt worden. Meine Mutter hat gesagt: Papa wird noch mit dir reden. Er hat sich aber geniert. Was soll ich tun? Oder: Was hätte ich tun sollen?

Das Problem ist so weit deutlich geworden. Aber wie kann man dem Leser mit seinem belastenden Problem helfen? Der Wahrheit-Sozialarbeiter rät:

Da scheiden sich die Männer von den Buben. Wenn einer schon weiter ist, nimmt er die staunende Mama sacht zur Seite und sagt: „Der Herr Wilsch wird jetzt sicher gehen wollen. Und ich hätte dich gern unter vier Augen gesprochen. Es ist nämlich so: Ich bin zum Manne gereift!“

Für alle anderen gilt: Angriff ist die beste Verteidigung! Entweder man behauptet frech, der Herr Pudlich hätte verlangt, dass man Beispiele sammelt für die Biologie des Weibes, oder man tut überrascht: „Wie kommt das denn in mein Heft? Herr Wilsch, das wird ein Nachspiel haben!“

WAHRHEIT-SOZIALARBEITER:

ALBERT HEFELE