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Archiv-Artikel

Reproduktion ist Reflexion

VERVIELFÄLTIGUNG Wolfgang Ullrichs überaus erhellende Verteidigung der Kopie: „Raffinierte Kunst. Übung vor Reproduktionen“

Mehr denn je prägen Reproduktionen unser ästhetisches Empfinden, schulen sie unsere visuelle Urteilskraft

VON BRIGITTE WERNEBURG

Rund 70 Jahre nach Walter Benjamin fragt Wolfgang Ullrich wieder nach dem Stand der Dinge in Sachen Kunstreproduktion. Eine gute Idee, schließlich gehen wir mehr denn je in unserem Alltagsleben mit Reproduktionen um, mehr denn je prägen sie unser ästhetisches Empfinden, definieren sie unseren Umgang mit Bildern und schulen sie unsere visuelle Urteilskraft.

Dass für Walter Benjamin in den 1930er-Jahren die für uns heute ganz selbstverständliche Reproduktionsqualität von Farbbildbänden und Hochglanzmagazinen kaum vorstellbar war, allein diese Tatsache verbietet den ewigen Rekurs auf „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ – ganz abgesehen davon, dass es nun schon im Zeitalter seiner digitalen Generierbarkeit angelangt ist.

Wolfgang Ullrich allerdings hält sich in seinen „Raffinierte Kunst“ betitelten Überlegungen, die er im Untertitel als eine „Übung vor Reproduktionen“ definiert, gar nicht weiter mit Benjamin auf. Er untersucht vielmehr die Stellung und Wertschätzung der Reproduktion innerhalb der Geschichte der Kunst bis zur Renaissance. Selbstverständlich bezweckte der Stich eines Gemäldes schon damals seine denkbar weiteste Verbreitung, womit Benjamins Diktum, die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiere dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual, hinfällig wird. Denn schon damals löste die Reproduktion das Kunstwerk aus seinem Umfeld. Ja, das Bestreben ging sogar dahin, das Kunstwerk in der Reproduktion so zu verbessern, dass die Bildidee des Künstlers möglichst deutlich wurde – was kein guter Einfall gewesen wäre, hätte nicht das Kunstwerk selbst interessiert.

Aber vielleicht war Benjamins Emanzipationsargument ja nur ein Kunstgriff, mit dem er Partei für die Reproduktion ergreifen konnte, was Wolfgang Ullrich heute, auf seine Weise, wieder tut. Anhand einer Vielzahl von historischen wie gegenwärtigen Beispielen im Umgang mit der Vervielfältigung arbeitet Ullrich mit stupender Präzision die kardinalen Leistungen der Reproduktion heraus, die er „raffiniert“, also verfeinert oder veredelt, nennt. Von Anfang an ist etwa zu beobachten, dass die medialen Eigenarten der Druckgrafik genauestens beachtet wurden, einerseits bei der Anfertigung des Originals, indem der Künstler schon in seiner Komposition auf die spätere Umsetzung im Stich Rücksicht nahm, andererseits bei der Reproduktion, wo zugunsten der Perfektion des Stichs auch mal Details des Original verändert oder auch ganz weggelassen wurden. Das Bewusstsein der Künstler, dass es darum gehe, reproduktiv attraktive, „fotogene“ Werke zu schaffen, war schon früh, schon vor dem Erscheinen der Fotografie, ausgebildet. Die heutigen Strategien sind selbst wiederum nur Verfeinerungen der reproduktiven Kunst der Verfeinerung – was das Kapitel zur Frage der Fotogenität aber nicht weniger lesenswert macht.

Selbstverständlich entwickelt auch Wolfgang Ullrich eine These in Hinblick auf die Frage, was die Reproduktion dem Original voraus hat. Anders als Benjamin, für den verständlicherweise die neue erweiterte Zugänglichkeit der Kunst das große Faszinosum bildete, argumentiert Ullrich aus einer Situation heraus, in der diese Errungenschaft für normal erachtet wird. Er schaut zurück und teilt Beat Wyss’ Beobachtung: „eine Reproduktion verhilft viel inniger zum Denken“. Sie fungiert dann weniger als Multiplikator denn als Instrument, den Blick zu schärfen für besondere Entwicklungen und Phänomene, sie dient dem anhand der Originale allein nicht zu bewerkstelligenden Vergleich und damit der Kritik: Reproduktion ist Reflexion. So argumentierte schon André Malraux in seinem 1949 erschienen Buch „Lex Voix du Silence“, in dem er vom „Imaginären Museum“ der Fotoreproduktion sprach.

Notwendigerweise widerfährt aber nicht nur der Reproduktion zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Wertschätzung, das Gleiche gilt auch für das Original. Entsprechend erhellend sind denn auch die Passagen in Ullrichs Studie, in denen er der Entstehung des Kults um das Original nachgeht – auffälligerweise erst nach der Erfindung der Fotografie –, um ihn anschließend gehörig zu destruieren. Aber auch die Reproduktion zieht spezifische mediale oder inszenatorische Folgen nach sich, zum Guten wie zum Bösen. So ist durch die rahmenlose Reproduktion inzwischen auch das ungerahmte Gemälde zum Standard geworden. Sie hat zu zweifelhaften Fällen der Kunstvermehrung geführt, wie Ullrich am Beispiel von Gerhard Richter zeigt; und sie manipuliert unser Bildgedächtnis, indem sie den Maßstab der Kunstwerke nivelliert und wir die Dürerzeichnung als gleich groß wie Raffaels „Schule von Athen“ kennen. Ein Punkt, den der Autor allerdings eher nebenbei streift.

Trotzdem ist seine „Übung vor Reproduktionen“ nur so weit Hommage an das Reproduktionswesen wie sie gleichzeitig richtungsweisende Aufforderung ist, das Instrument der Kopie für einen aufgeklärten Diskurs über Kunst wiederzugewinnen. Nicht ohne Grund also beschließt Wolfgang Ullrich seine Untersuchung mit der Warnung von László Moholy-Nagy, dass die Reproduktion „nur als virtuose Angelegenheit zu betrachten“ sei, erfolge sie nicht „aus dem besonderen Gesichtspunkt der schöpferischen Gestaltung“.

■ Wolfgang Ullrich: „Raffinierte Kunst. Übung vor Reproduktionen“. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009. Geb., 160 S., rund 40 Abb., davon 15 Farbabb., 22,90 €