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Archiv-Artikel

Mit Pistole und Sprengstoff zum Gericht

Ein Rentner wollte im September 2004 mit 7,5 Kilo TNT das Landessozialgericht in die Luft sprengen. Fast 30 Jahre stritt er sich mit Ämtern und Ärzten um angebliche Behandlungsfehler und eine angemessene Rente. Seit gestern steht er vor Gericht

VON BARBARA BOLLWAHN

1972 fiel der Schlosser Wolfgang F. eine Treppe hinunter und verletzte sich den Rücken. Einige Jahre später ließ er sich operieren, um die schmerzenden Lendenwirbel in Ordnung zu bringen. Danach geriet sein ganzes Leben aus den Fugen. Er warf den Ärzten Behandlungsfehler vor und fühlte sich um eine angemessene Rente betrogen.

Fast 30 Jahre lang reichte Wolfgang F. Klagen ein, stritt er um die Übernahme von Behandlungskosten, beschuldigte er Richter und Ärzte, ihn zu betrügen und Papiere zu fälschen. Der einzige Erfolg, den der 62-Jährige errang, war eine kleine Rente. Die Landesversicherungsanstalt hatte eine 30-prozentige Erwerbsfähigkeit anerkannt. Wolfgang F. aber sieht sich voll erwerbsunfähig – und als Bürger, der betrogen wird. Als ihm im vergangenen Jahr von einem Arzt eröffnet wurde, dass eine Amputation notwendig sei, beschloss er, das Landessozialgericht in die Luft zu sprengen.

Am 14. September 2004 betrat Wolfgang F. gegen 11 Uhr das Landessozialgericht in der Invalidenstraße in Mitte. In der rechten Hand trug er eine durchgeladene halbautomatische 9-mm-Pistole. Unter der Jacke hatte er eine funktionsfähige russische Panzermine und zwei mit Reißzwecken und Nägeln präparierte „Polenböller“ versteckt. Um den Hals trug er eine selbst gefertigte Fernbedienung für die Panzermine. Die Pförtnerin wunderte sich über seine ausgebeulte Jacke und stellte sich ihm in den Weg. Da richtete Wolfgang F. seine Pistole auf die Frau: „Das regele ich alleine.“ Dann stürmte er in die erste Etage hoch. Die Pförtnerin alarmierte die Sicherheitskräfte, zehn Minuten später konnte Wolfgang F. überwältigt werden. Er kam in Untersuchungshaft. Derzeit befindet er sich in einem Krankenhaus des Maßregelvollzugs. Seit gestern muss er sich wegen versuchter Geiselnahme und Sprengstoffbesitz vor einer Großen Strafkammer beim Landgericht verantworten.

Schweigend verfolgte Wolfgang F. die Verhandlung. Seinen dicken Bauch umspannte ein weinrotes Hemd, das er in eine schwarze Trainingshose gesteckt hatte. Ab und an flüsterte er seinem Anwalt Wörter wie „Sauerei“ zu oder legte ihm kleine Zettel vor. Obwohl er bei seiner polizeilichen Vernehmung angekündigt hatte, sich vor „einem breiten Forum“ zu seinen Beweggründen zu äußern, sagte er nichts. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Wolfgang F. die Taten zumindest im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit begangen hat. Aufgrund einer paranoiden Erkrankung sei er in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Das Gericht erstrebt eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Offenbar war Wolfgang F. jahrelang eine tickende Zeitbombe. 1978 war er schon einmal mit einer Pistole und Sprengstoff unterwegs. Damals wollte er einen Nervenarzt, der ein Gutachten über ihn erstellen sollte, mit vorgehaltener Waffe zwingen, ein von ihm vorbereitetes Schreiben zu unterzeichnen, in dem der Arzt sich schuldig bekennt, „schwerste Verletzungen des hippokratischen Eides begangen zu haben“. Weil eine Sprechstundenhilfe die Polizei informierte, konnte Wolfgang F. rechtzeitig festgenommen werden.

Er kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Der Nervenarzt hatte damals erklärt: „Ich kann nur sagen, der Mann tut mir leid.“ Mit den zwei Pfund Sprengstoff, die Wolfgang F. vor 27 Jahren in einer Keksdose dabeihatte, hätte er den Arzt, dessen Praxis und sich selbst in die Luft sprengen können. Hätte er im September die mit 7,5 Kilogramm TNT gefüllte Tellermine gezündet, wäre vom Landessozialgericht kaum etwas übrig geblieben. Der Prozess wird am 18. April fortgesetzt.