: das montagsinterview„Der Sozialismus ist nicht gescheitert “
Als die Mauer fiel, drückte Florian Wilde die Schulbank in Kiel. Jetzt soll er die DDR für die Linkspartei historisch beurteilenRUINE ODER ZUKUNFT Der Historiker Florian Wilde steht im Dienst der Linkspartei: Er berät sie in Sachen Geschichte und soll zugleich ihre stalinistischen Rückstände auskehren. Ein Gespräch über die DDR, den Sozialismus und den Mainstream der Geschichtsschreibung
INTERVIEW CHRISTIAN JAKOB
taz: Herr Wilde, Sie sind jung und in Westdeutschland aufgewachsen. Fühlen Sie sich da qualifiziert, im Auftrag der SED-Nachfolgepartei die DDR zu beurteilen?
Florian Wilde: Wir beraten den Parteivorstand ja allgemein zu historischen Fragen – etwa zum Komplex 1968 oder zum 90. Jubiläum der Novemberrevolution. Die DDR ist zwar nicht mein Spezialgebiet, aber als marxistischer Historiker fühle ich mich schon qualifiziert, das zu beurteilen.
Können Sie sich an Ihren ersten DDR-Besuch erinnern?
Ja, ich war 1989 vor der Wende mit meinen Eltern in Berlin.
Und wie war’s?
Eine sehr verstörende Erfahrung: Die Grenzkontrollen, die Polizei, das war extrem abschreckend. Ebenso wie der Blick über die Mauer, das Gefühl, diese eingesperrten Menschen zu sehen. Das wirkte auf mich wie ein Großraumgefängnis.
Sie hätten dort also nicht leben wollen?
Nein. Mit meinem politischen Engagement hätte ich da wohl mit den Autoritäten große Schwierigkeiten gekriegt.
Können Sie sich noch an die Zeit des Mauerfalls erinnern?
Wir haben das am Fernseher verfolgt, ich war total begeistert, als die Mauer gefallen ist. Zwei Tage später haben meine Eltern wildfremde Ostdeutsche aus der Innenstadt mit nach Hause gebracht, die haben uns dann auch zu sich eingeladen.
Wie würden Sie die Wende beschreiben?
Eingeleitet wurde sie von einer breiten Massenbewegung mit antistalinistischer Stoßrichtung. Die Leute wollten eine demokratische Revolution in der DDR. Es gelang den westdeutschen Eliten aber schnell, sie auf eine Wiedervereinigung zu orientieren.
Den Montagsdemonstranten wurde der Ruf nach Einheit von der BRD souffliert?
Zuerst hieß es nur: ‚Wir sind das Volk‘, dann erst: ‚Wir sind ein Volk.‘ Natürlich wollten die westdeutschen Eliten die Einheit, und natürlich haben die sofort entsprechend interveniert.
Ohne eine entsprechende Offenheit der Ostdeutschen wäre das wohl folgenlos geblieben.
Die Menschen hatten auch Hoffnungen auf soziale Veränderungen. Und als Kohl mit den Bananen wedelte und blühende Landschaften versprach, hieß das: Allen Menschen wird es schnell viel besser gehen. Dieses Versprechen war ein wesentlicher Grund dafür, dass die DDR abgeschafft werden konnte.
Und das hat sich nicht erfüllt?
Demokratischen Fortschritt gab es natürlich. Die Aussichten auf soziale Verbesserungen haben sich aber nur bedingt erfüllt. Es gab eine umfassende Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit und eine Verödung ganzer Landstriche.
Kulturell verödet war die DDR ja vorher schon, und die Vollbeschäftigung dort war eher eine Art sozialistischer Beschäftigungstherapie in maroden Betrieben …
Mag sein, aber dies führte immerhin nicht zum gesellschaftlichen Ausschluss wie Arbeitslosigkeit jetzt. Und die Wiedervereinigung hatte eine Welle von Rassismus und neuer deutscher Großmachtpolitik – mit der Bereitschaft zu weltweiten Kriegseinsätzen – zur Folge.
Im November jährt sich der Mauerfall zum 20. Mal, der Kampf um die Deutungshoheit über die DDR wird sich zuspitzen. Wie bereiten Sie sich auf dieses Datum vor?
2009 ist ja ein doppeltes Jubiläum: 60 Jahre Staatsgründung von BRD und DDR und 20 Jahre Mauerfall. Wir arbeiten an einer Erklärung, in der wir versuchen, die DDR nicht nur von ihrem Ende zu betrachten, sondern die Legitimität der zwei deutschen Staaten aus dem historischen Kontext heraus zu erklären.
Legitimität? Die Alliierten wollten die Blockkonfrontation institutionalisieren …
Natürlich war die Blockkonfrontation ein Grund für die DDR-Gründung. Es war aber auch der Versuch, andere Lehren aus der Zeit des deutschen Faschismus zu ziehen als im Westen.
Welche denn?
Anders als im Westen konnten in der DDR die alten Nazis nicht wieder in führende Positionen aufsteigen. Außerdem hat man dort versucht, die ökonomischen Eliten, die 1933 die Nazis mit an die Macht gebracht hatten – Großgrundbesitzer, Schwerindustrielle, Finanzkapital – konsequent zu entmachten.
Laut Parteivorstandsbeschluss soll Ihre Kommission „dem Einfluss medial vermittelter Geschichtsinterpretationen politisch vorherrschender Kräfte etwas entgegensetzen“. Wer sind denn diese Kräfte?
Der westdeutsche Mainstream, von sozialliberal bis rechtskonservativ. Deren Erzählung läuft darauf hinaus, den Kapitalismus als alternativlos darzustellen – und dazu zieht man 1989 heran. Die DDR wird als sozialistisch gezeichnet, um den Sozialismus generell zu diskreditieren.
Die DDR war also nicht sozialistisch?
Das Dutschke-Wort gilt: Im real existierenden Sozialismus war alles mögliche real, aber nicht der Sozialismus. Im Arbeiter- und Bauernstaat herrschte eine Staats- und Parteibürokratie, nicht das Volk.
Und welche Deutung setzen Sie dem entgegen?
Dass der Sozialismus mit der DDR nicht grundsätzlich gescheitert ist. Die Widersprüche der Gesellschaft verlangen nach wie vor nach Alternativen. Deswegen ist es so wichtig, die DDR nicht zu glorifizieren. Demokratie und Sozialismus gehören untrennbar zusammen, und deshalb scheidet die DDR als Vorbild der Zukunft aus. Zum anderen versucht die herrschende Geschichtsschreibung, die deutsche Geschichte auf eine Erfolgsstory West zu verengen – womit die DDR-Bürger zugleich als Loser abgestempelt werden.
Ihre zweite Aufgabe ist es, der „Konservierung überholter Geschichtsdeutungen in Teilen der Mitgliedschaft“ entgegenzutreten. Welche Deutungen sind dies?
Im Gegensatz zum Mainstream im Westen versuchen einige, meist ältere Parteimitglieder, quasi spiegelverkehrt, die DDR als große sozialistische Errungenschaft hinzustellen. Wenn wir sozialistische Perspektiven offen halten wollen, dürfen wir diesen Schritt der Identifizierung nicht mitgehen.
Wie viele Linke-Mitglieder sind es denn, deren Geschichtsbild als „überholt“ gelten muss?
Es gibt bei einem Teil der Mitgliedschaft schon noch stalinistische Vorstellungen, der ist aber marginal.
Wie geht man mit dem um?
Es gibt Auseinandersetzungen, zum Beispiel mit dem Ältestenrat, der in Teilen einen positiveren Bezug zur DDR-Vergangenheit vertritt. Darüber diskutieren wir solidarisch mit denen, und das gehört zu einer pluralen Partei dazu. Ich bin aber sicher, dass ein großer Teil der Mitglieder unser Geschichtsbild teilt.
Seit der Fusion mit der WASG?
Die hat das natürlich gestärkt, weil Kräfte mit ganz anderen Traditionen hinzugekommen sind. Ein Bruch mit dem Stalinimus gehörte aber schon zum Gründungskonsens der PDS.
Hatte die DDR gute Seiten?
Die erwähnte Entmachtung der alten Nazis, billige Mieten, günstiger Nahverkehr, ein egalitäres Bildungssystem. Und die außenpolitische Unterstützung der antikolonialen Bewegungen …
…, die oft ziemlich schnell in einen autoritären Stalinismus kippten.
Das mag sein, aber im Vietnamkrieg etwa stand die DDR auf Seiten der Unterdrückten und die BRD auf Seiten der Unterdrücker.
Aktuelle Studien zeigen, dass der Anteil der Menschen, die die DDR positiv sehen, steigt. Vor allem unter SchülerInnen. Wie gehen Sie mit solcher Verklärung um?
Das hat sicher mit enttäuschten Hoffnungen zu tun. Wenn wir aber sozialistische Alternativen stark machen wollen, dann müssen wir die Einheit von Demokratie und Sozialismus klarmachen. Die massiven Demokratiedefizite, die starke autoritäre Bevormundung der Bevölkerung und die heftige Repression gegen Dissidenten in der DDR dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Trotzdem kann man nicht die DDR nur als Negativfolie für die Erfolgsgeschichte der BRD begreifen.