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Archiv-Artikel

Eine kleine Erlebnisorientierungshilfe

Der präparierte Papst und sein posthumes Publikum pilgernder Lemminge: Warum derzeit alle Wege nach Rom führen

Das Publikum ist nur Zaungast von Geschichten und Geschichte. Und doch ihr notwendiger Adjutant. Ohne Publikum, so viel zum Positivismusstreit, wäre vieles gar nicht existent. Oder nur halb so schön. Denn wer sich herausputzt, der will auch gesehen werden. Und das gilt, so viel zu den ausgebufften Bilderbauern aus der katholischen Führungsriege, auch für den herausgeputzten Papst.

An ein Renaissancegemälde erinnerten die grob gepixelten Aufnahmen, die der Vatikan vor vier Tagen vom aufgebahrten Pontifex veröffentlichte. Die römischen Ordnungskräfte haben die Menschen bereits gebeten, sich vom einbalsamierten Papst zu Hause vor dem Fernseher zu verabschieden. Für die weltweit versendeten Bilder hatten sich längst genügend Statisten eingefunden. Oder hatten diese gar die Hauptrolle übernommen? Eine der Hauptrollen zumindest, neben einem in einer recht klassischen Kulturtechnik präparierten Papst.

Es ist eine eigenartige Mischung aus prämoderner Pilgerreise und spätmodernem Eventtourismus, die sich in den vergangenen Tagen durch die engen Altstadtgassen Roms schlängelte – mit dem Platz vor Sankt Peter als einer der prächtigsten Boulevards unserer Medienmoderne. Ein öffentlicher Ort, so wie auch das Leben von Papst Johannes Paul II. ein öffentliches war.

Über Menschen, Massen und Menschenmassen hat Elias Canetti einmal eine sehr schöne Definition gegeben: „Die Menschen strömen zu dem Ort, wo es am schwärzesten ist von ihnen selbst.“

Und nicht nur Peter Sloterdijk, sondern bereits Canetti selbst haben darauf verwiesen, wie dieses Verhalten, die tatsächliche Subjektwerdung der Masse absorbiert. Ja, dass die Masse sich wahrscheinlich vor allem selbst besichtigt. Die Lemminge, die Lemminge, die laufen Richtung Meer … vermutlich deshalb, weil mindestens einer von ihnen das Meer zuvor im Fernsehen gesehen hat.

Für die aktuellen Bilder in und aus Rom lässt dies nun zwei Interpretationen zu. Die von sakraler Sinnstiftung in einer zunehmend säkularisierten Welt – die eben doch nicht auf die römisch-katholische Orientierungshilfe verzichten will. Oder die vom vollends säkularisierten Spektakel. Der katholischen Kirche allerdings darf das letztlich egal sein. Ihr nützt der aktuelle Publikumsverkehr mehr als alle wünschenswerten Reformen der nächsten Jahre. Die Rolling Stones, um etwas ähnlich Langlebiges zu bemühen, singen nach einer ausverkauften Welttournee ja auch weiterhin die alten Lieder.

CLEMENS NIEDENTHAL