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Archiv-Artikel

One-Way-Ticket nach Zürich

Todkranke reisen zum Sterben in die Schweiz. Dort kann man sich auf Rezept ein tödliches Mittel verabreichen lassen und wird beim Sterben von ehrenamtlichen Mitarbeitern betreut

VON JULIANE GANSERA

Tiefblaue Seen, traumhafte Bergpanoramen, Erholung pur. Dieses Bild lockte 2003 viele deutsche Urlauber in die Schweiz. Aber nicht alle Touristen kamen der landschaftlichen Schönheit wegen. 45 Deutsche reisten zum Sterben in die Schweiz.

Seit 1942 sind „Tötung auf Verlangen“ und „Beihilfe zum Suizid“ im schweizerischen Strafgesetzbuch geregelt. Letztere bleibt straffrei, wenn sie nicht „aus selbstsüchtigen Beweggründen“ erfolgt. Andernfalls muss der Sterbehelfer mit bis zu fünf Jahren Gefängnis rechnen. Aktive Sterbehilfe ist verboten.

Fünf verschiedene Sterbehilfeorganisationen gibt es: Dignitas, Exit Deutsche Schweiz, Exit AMDM Suisse romande, Ex-International und Suizidhilfe.

Besonders umstritten ist die Organisation Dignitas. Sie ermöglicht Todkranken, die keinen Schweizer Wohnsitz haben, den bewusst eingeleiteten Tod. In den Niederlande und in Belgien gibt es keinen Sterbetourismus. Die Sterbebegleitung ist dort nur für Einheimische möglich. Bei Dignitas findet nach der Einreise ein Patientengespräch statt, die Verabreichung des tödlichen Medikaments erfolgt meist am selben Tag. Exit Deutsche Schweiz lehnt den Sterbetourismus ab. Sie befürchtet, in den Verdacht zu geraten, aus finanziellen Interessen zu handeln.

Voraussetzung für die Leistung von Suizidhilfe sind in der Schweiz und in den Niederlanden der Nachweis des Sterbewunschs über einen längeren Zeitraum, ein unheilbares Leiden mit tödlichem Verlauf sowie die Beurteilung und Beratung durch zwei Ärzte. Im Anschluss an die Sterbebegleitung informiert der Sterbehelfer die Polizei. Um rechtlich kritischen Situationen vorzubeugen, zeichnet zum Beispiel Dignitas die Suizidhilfe auf Videoband auf.

In Deutschland ist bereits das bloße Geschehenlassen eines Selbstmords als „unterlassene Hilfeleistung“ strafbar. Angehörige und Arzt haben eine „Garantenpflicht“ bezüglich des Lebens eines Selbstmordwilligen, sie müssen mit Anklage wegen „Tötung durch Unterlassung“ rechnen. Möglich ist passive Sterbehilfe. Nimmt ein Leiden nach Ansicht des Arztes unumkehrbar einen tödlichen Verlauf, kann er von lebensverlängernden Maßnahmen absehen, wenn eine Patientenverfügung vorliegt.

Die Schweizer Organisationen finanzieren sich durch Mitgliederbeiträge. Der Jahresbeitrag beläuft sich bei Exit Dt. Schweiz auf 35 Schweizer Franken, die Mitgliedschaft auf Lebenszeit kostet 600 Franken. Die Kosten für eine Freitodbegleitung belaufen sich bei Dignitas auf 5.000 bis 5.700 Schweizer Franken (Vorbereitungen 1.000, Arztbesuch bis zu 500, Durchführung 1.000, Bestattung 1.500–2.200, Abwicklung der Behördengänge 1.000).

Die Sterbebegleiter erhalten aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingungen kein Gehalt. Sie arbeiten ehrenamtlich. Die Mitglieder bei Dignitas kommen in der Mehrheit aus dem Ausland. 2003 gehörten lediglich 897 Schweizer Mitglieder der Organisation an. Ein erheblicher wirtschaftlicher Faktor waren die 1.293 Deutschen, 453 Engländer und 258 Franzosen.

Dorle Vallender, Politikerin der „Freisinnig Demokratischen Partei“ (FDP) in der Schweiz, setzte sich im Parlament 2002 für eine Änderung der bestehenden Gesetze ein. Sie forderte staatlich gemeldete und kontrollierte Organisationen und Helfer, Beratung und Beurteilung durch zwei Ärzte und ein Werbeverbot. Die Initiative sah weiterhin das Verbot von Suizidhilfe für Personen, die nicht in der Schweiz wohnen, vor. „Dadurch wird verhindert, dass Zürich, Bern und andere Städte zu einer Drehscheibe des Sterbetourismus werden, wo man die Rechtsordnung anderer Länder unterlaufen kann“, so ihre Argumentation. Der Antrag wurde Ende November 2002 durch den Schweizer Bundesrat abgewiesen.

Dignitas-Gründer A. Minelli will nichts von einer Neuregelungen wissen: „Der Umstand, dass es ein ärztliches Rezept braucht und dass jeder Fall nachträglich durch die Justiz untersucht wird, genügt voll und ganz.“ Die Züricher Staatsanwaltschaft sieht hingegen Handlungsbedarf. So müssen die Leichen von „Sterbetouristen“ im Schweizer Kanton obduziert werden. Der aktuelle Entwurf des Staatsanwalts Andreas Brunner sieht die Beteiligung der Sterbehilfeorganisationen an den Kosten, die durch die Freitodbegleitung anfallen, vor. 2003 beliefen sie sich für Ermittlungen und Obduktionen auf 273.000 Schweizer Franken.

Elke Baezner-Sailer, langjähriges Vorstandsmitglied von Exit Deutsche Schweiz, sagt: „Die beste Gewähr, dass Freitod- oder Sterbehilfe für Nichtschweizer unterbleibt, wäre allerdings, dass die Nachbarstaaten der Schweiz – und ich denke da besonders an Deutschland, Frankreich, aber auch in England – die Bedingungen schaffen, die es den Schwerstkranken ermöglichen, in Würde und Frieden daheim zu sterben.“

www.dghs.de, www.dignitas.ch, www.ne.ch, www.suizidhilfe.ch