: Die Beförderungsbehörde
Die BVG ist kopflos. Nach dem Tod des Vorstandschefs sucht der Aufsichtsrat nach einem Nachfolger. Der Neue ist nicht zu beneiden. Denn der Nahverkehrsriese schleppt viele Altlasten mit sich herum – und wird von den BerlinerInnen nicht geliebt
VON ULRICH SCHULTE
Ein Freund hat neulich seine ganz persönliche BVG-Geschichte erzählt, wie sie wohl jeder erzählen kann: Er wollte am frühen Samstagmorgen am Bahnhof Zoo in einen Nachtbus steigen, einen Hamburger in der Hand. „Essen nur draußen“, beschied ihn der Fahrer. Der Freund schlenderte also zwei, drei Meter vor der offenen Fahrertür hin und her, um schnell das Mahl zu beenden. Kurz darauf fuhr der Fahrer los, nicht ohne zuvor wortlos die Tür zu schließen.
Eine Begegnung, die viel sagt über die Beziehung der BVG zur Stadt, und gar nicht mal nur Negatives. Denn in seiner Sturheit sei ihm der Mann fast sympathisch gewesen, berichtet der Freund. Und natürlich gibt es auch nette Anekdoten. Um also gleich noch mal persönlich zu werden: Die BVG macht keinen schlechten Job. Ihr Netz kann sich – verglichen mit dem anderer Großstädte – sehen lassen. Im Gegensatz zur Londoner Tube sind hiesige U-Bahnen grandios pünktlich. Der Nachtverkehr ist dicht, zuverlässig und wird gerne genutzt. Die neu geführten (Metro-)Buslinien schließen einige Lücken. Leider kommen die Leistungen der BVG (Werbespruch: „Es lebe Berlin“) bei den meisten BerlinerInnen nicht an. „Warum lieben die uns nicht?“, fragt sich nicht nur BVG-Sprecherin Petra Reetz ab und an ratlos.
Eines verbessert diese Gemengelage nicht: Die BVG ist kopflos. Der Vorstandsvorsitzende und Chefsanierer Andreas von Arnim starb vor knapp drei Wochen überraschend an einer Lungenembolie. Die Nachfolgediskussion wurde schon vor der gestrigen Aufsichtsratssitzung (siehe Kasten) begonnen. Wer es auch wird – der oder die Neue übernimmt eine Großbaustelle auf Rädern. Ein hoch verschuldeter Betrieb wartet mit nach wie vor verkrusteten Strukturen und reichlich Beharrungsvermögen.
Die Hauptverwaltung hockt wie eine Burg am Kleistpark. Von hier aus wird Deutschlands größtes kommunales Nahverkehrsunternehmen gesteuert. Um sich ihm zu nähern, sind ein paar trockene Zahlen durchaus angebracht. Die BVG und ihre Tochterfirmen beschäftigen 13.500 Mitarbeiter. 1.370 U-Bahnen, 1.390 Busse und 600 Trams legen aufs Jahr gerechnet ca. 250 Millionen Nutzwagenkilometer zurück. Die BVG schafft es damit Tag für Tag bis zum Mond und fast zurück – unterwegs nimmt sie dabei fast 2,5 Millionen Leute mit. Und, irgendwie gut zu wissen, es stehen 3.600 Ticketautomaten in den Bahnhöfen, auch wenn davon – zumindest gefühlt – die Hälfte nie funktioniert.
Das mit der Liebe ist natürlich so eine Sache, Zahlen zählen da nicht. Dabei hat sich einiges getan bei der BVG-Berlin-Beziehung. Denn seit einiger Zeit redet das Unternehmen mit der Stadt. Wird Feinstaub heftig diskutiert, klebt sie Öko-Sticker auf die 1.000 Busse, die (natürlich schon lange) mit Rußfiltern fahren. Das kostet wenig, macht aber gute Stimmung. Die einstige Pressesprecherin zeichnete sich vor allem dadurch aus, nicht zur Presse zu sprechen. Die im Frühjahr letzten Jahres eingestellte Petra Reetz hingegen ist nach 15 Jahren in der Stadtentwicklungsverwaltung eine geübte PR-Strategin. Die Vorstände bringen Journalisten in Hintergrundgesprächen auf den neuesten Stand, gerne mal bei Thai-Kokossuppe im repräsentativen „Infopoint“ am Pariser Platz.
Doch ausgerechnet die Werbekampagne für ihr wichtigstes Produkt, die so genannten Metrolinien, haben die Betriebe frontal vor die Wand gesetzt. Ihre Netzreform hat die BVG „Formel M“ genannt, weil das nach „Formel 1“ klingt, also modern, schnell, glänzend. Doch so ist die BVG nicht, zumindest nicht in den Köpfen der KundInnen, deshalb konnte die Kampagne nicht funktionieren. 5 Millionen Euro teuer vermittelte sie hauptsächlich die Botschaft „Tempo, Tempo, Tempo!“ – ein Versprechen, das die Metrolinien als etwas anders getaktete und geführte Normallinien nie einlösen konnten. Doch bei den BerlinerInnen blieben das alberne „Vrrrrroooooooom!“ und chromblitzende Sportauspuffe unter tiefer gelegten Bussen hängen. „Statt auf Geschwindigkeit hätten wir zum Beispiel auf Zuverlässigkeit setzen müssen“, gibt ein BVG-Oberer im Nachhinein zu.
Die BVG erinnert in ihrem Bemühen an eine alte Dame, die sich in Hotpants zwängt, um hip zu wirken. Auch der weltläufige Name „Metrolinien“ lässt Touristen erst mal nach der U-Bahn suchen, weil die in Paris, Moskau und übrigens auch im deutschen Fremdwörterduden eben „Metro“ heißt.
Nun mag man derlei als Geschmacksfragen abtun, aber der Kardinalfehler der BVG war ein anderer: Sie hat das ureigene Ziel der Umstellung, nämlich durch ein dünner geflochtenes Netz Geld zu sparen, nicht vermittelt. Mit 4 Millionen eingesparten Nutzwagenkilometern und 100 ausgelassenen Haltestellen will sie mehr Erträge erzielen: summa summarum 19,8 Millionen Euro weniger Verluste pro Jahr.
Damit ist der Kern der Sache erreicht. Denn Geld spielt die zentrale Rolle im Beziehungsgefüge BVG. Der Verkehrsriese schreibt – trotz der jährlichen Landeszuschüsse von rund 420 Millionen Euro – traditionell rote Zahlen. Zwar schaffte es der Vorstand, die Verluste 2004 im Vergleich zum Vorjahr um 11 Millionen Euro runterzufahren, unterm Strich blieben fürs laufende Geschäft aber immer noch 75 Millionen Miese übrig.
Viel schlimmer ist aber, dass die BVG zum Jahreswechsel 1,0813 Milliarden Euro Schulden mit sich herumschleppte – und es werden mehr. Im Vorjahr 2003 lagen sie noch 94,8 Millionen unter dieser Höchstmarke. Solche Verpflichtungen – und die entsprechenden Zinsbelastungen – sind in etwa so leicht aufzufangen wie ein Doppeldeckerbus, dem die Bremsen wegfliegen. Wie das Schuldenproblem der BVG, von den Fortschritten im laufenden Geschäft mal abgesehen, in den Griff zu kriegen ist, weiß in und um Berlin kein Mensch.
Diese Entwicklung wurzelt in den subventionsgesättigten Zeiten des alten Westberlin. Jahrzehntelang funktionierte der Landesbetrieb nicht nur als Beförderungs-, sondern auch als Beschäftigungsbehörde. Zum Vergleich: 1991 arbeiteten 27.600 Leute wiedervereinigt unter gelber Flagge, heute sind es wie gesagt nur noch 13.500, lässt man die Tochterfirmen außen vor, gar nur noch knapp 12.000. Die Hälfte der Mitarbeiter erbringt also heute die gleiche Leistung.
Auch die Politik trug immer wieder ihr Scherflein bei: Dass der Senat die BVG am 1. Januar 1994 in eine Anstalt des öffentlichen Rechts umwandelte, hatte zum Beispiel einen netten Nebeneffekt: Die Manager durften – jenseits des Landeshaushalts – Schulden machen, was sie weidlich nutzten. Während heute die BVG-Basis unter dem strikten Sparkurs leidet, hat sich das Management längst nicht von der Selbstbedienungsmentalität verabschiedet. Noch im Sommer vergangenen Jahres musste sich der Vorstand vom Rechnungshof vorhalten lassen, an Führungskräfte unangemessene Bonzengehälter zu zahlen.
Die BVG trägt zudem schwer an dem Wasserkopf der eigenen Verwaltung. Auf eine kleine Anfrage an den Senat antwortete das Unternehmen im März, dass die FahrerInnen der BVG und ihrer Tochtergesellschaften zu den Angestellten in einem Verhältnis von 5:1 stehen. „Andere, kleinere Verkehrsunternehmen arbeiten da wesentlich effizienter – teilweise mit Schlüsseln von 9:1“, sagt die grüne Verkehrsfachfrau Claudia Hämmerling. Die BVG schiebt also zu viele Akten hin und her, obwohl die Kalkulierer in das Verhältnis wohlweislich die betriebswirtschaftlich getrimmte Tochter Berlin Transport hineingerechnet haben. Die beschäftigt auch Bus- und U-Bahn-FahrerInnen, zahlt aber ein Drittel weniger Lohn.
Die Busfahrer, die in der Betriebshofkantine beim „BVG-Teller“ (Riesenbockwurst mit Kartoffelsalat) über „die Firma“ fachsimpeln, haben unter ihr gelitten in den letzten Jahren. In den guten alten Zeiten bekam ein Busfahrer bereits Lohn, wenn er in Pankow vor Dienstbeginn aus seiner Wohnungstür trat. Heute reißt jeder doppelt so viele Nutzwagenkilometer ab wie noch Mitte der 90er. Das Essengeld ist weg, spezielle freie Tage sind es auch. Das Management hat die Wendezeiten auf wenige Minuten verknappt. Wer mit Verspätung an der Endhaltestelle ankommt, fährt mit Verspätung weiter, ohne Pause.
Mit einem Spartentarifvertrag wollen Land und BVG künftig 50 Millionen Euro jährlich an Gehältern sparen. Die BVGler verzichten auf 8 bis 12 Prozent Lohn und arbeiten weniger, dafür schließt das Unternehmen betriebsbedingte Kündigungen aus, so der Deal. Endgültig eingetütet ist er längst nicht, gerade streiten sich die Parteien über ein Eigentümerbekenntnis des Senats.
Außer durch Einsparungen versucht sich die BVG mit einer rigiden Preispolitik aus dem Finanzloch zu ziehen. Nur ein Beispiel: Ein Monatsticket war im Jahr 2000 noch für 53,70 Euro (105 Mark) zu haben, ab 1. August sollen die BerlinerInnen 67 Euro löhnen – knapp 25 Prozent mehr.
Und jetzt schließt sich der Kreis zwischen kalten Zahlen und heißen Gefühlen. Denn wenn der Berliner seiner BVG viel verzeiht, sei es Pendelverkehr, seien es Prügelkontrolleure, irgendwo hört der Spaß auf. Wer mag schon eine Liebste, die ständig nur das eine will?