: Zweierlei Realpolitik
Fischer im Dienst (5): Wer heute fragt, wo die grünen Ideale in der Außenpolitik geblieben sind, muss auch fragen, was von diesen Idealen durchsetzbar war
Ursprüngliche politische Ansprüche am schließlich erreichten Resultat zu messen ist für Kritiker ein immer lohnendes Geschäft – vor allem wenn es sich um Außenpolitik handelt und der Politiker Joschka Fischer heißt. Denn in der Außenpolitik ist die Fallhöhe zwischen dem Wünschbaren und dem Erreichbaren besonders groß.
Auch wenn Fischer im Parteikampf der Grünen stets aufseiten der „Realos“ stand – als Anhänger einer „realistischen“, das heißt nach der gängigen Terminologie ausschließlich von Machtkalkülen bestimmten außenpolitischen Orientierung hat er sich nicht verstanden, konnte es auch nicht. Mit seiner Partei teilte er Prinzipien im Bereich der Außenpolitik, die sich aus einem umfassenden gesellschaftlichen Projekt, der ökologischen Umgestaltung der Industriegesellschaft, herleiteten. Also das Selbstverständnis Deutschlands und der Europäischen Union als Zivilmacht, der Vorrang internationaler Krisenprävention, friedlicher Konfliktlösung und Abrüstung, Multilateralismus, Global Governance angesichts globaler Probleme, schließlich eine menschenrechtsorientierte Außenpolitik.
Außenpolitischer „Realo“ zu sein musste demnach heißen, von Grundkonstanten wie der „Westbindung“ Deutschlands, der Mitgliedschaft in der Nato und der EU auszugehen, um diese Konstanten dann schrittweise umzugestalten – nach Maßgabe des Möglichen. Weshalb es legitim ist, dem Schicksal dieser Ideale im Getriebe der Politik nachzugehen. Dabei geht es nicht darum, wie „rein“ die Politik gemessen an den Prinzipien war, sondern um Antwort auf die Frage: „Was war durchsetzbar?“
Zum Kriterium für Anspruch und Wirklichkeit in der deutschen Außenpolitik ist das Verhältnis zur bewaffneten Gewalt als legitimes Mittel der Konfliktlösung geworden. Das entscheidende Datum war hier für Joschka Fischer der von ihm mitgetragene Entscheid, die Bombardierung Rest-Jugoslawiens 1999 zu unterstützen. Fischer motivierte seinen Entscheid mit der Notwendigkeit, die bedrängten Albaner im Kosovo zu schützen, also mit einem menschenrechtlichen Argument. Damit nahm er das grüne Selbstverständnis gleich von zwei Seiten in die Zange. Denn das Bombardement Jugoslawiens verletzte zum einen das Gewaltmonopol der UN und zerstörte die Hoffnung auf eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Zum anderen entwertete es die menschenrechtliche Argumentation, weil die militärische Aktion, die dem Schutz der Albaner dienen sollte, selbst mit schweren Menschenrechtsverstößen verbunden war.
Aber wurde dieser Politikwechsel zur militärischen Gewalt nicht gemildert durch die Politik der Folgezeit, die schließlich im Balkan-Stabilitätspakt mündete, und hat nicht vor allem das „Nein“ zur Irak-Intervention der USA vollends gezeigt, dass der grüne Außenminister zu den ursprünglichen Prämissen grüner Politik zurückgekehrt ist? Hier zeichnet sich ein umgekehrter Aktionsverlauf ab. Sicher wurde Fischers Auftritt vor dem Weltsicherheitsrat zum Höhepunkt einer intelligenten und standfesten Amtsführung. In der Folgezeit aber wurden die Konturen einer politischen Alternative zur amerikanischen Politik des „lang dauernden Krieges“ gegen den Terrorismus immer undeutlicher, um schließlich in jüngster Zeit – im Zeichen von Bushs Annäherung an die Kriegsgegner – völlig verwischt zu werden.
Aber entsprang dieser erneute Kurswechsel nicht politischer Notwendigkeit? Die USA verantworten im Irak das „nation building“, eine Friedenslösung im israelisch-palästinensischen Konflikt ist ohne sie nicht denkbar, die EU erweist sich als unfähig zu einer gemeinsamen Strategie. Musste Fischer nicht aus der Sackgasse finden, in die die deutsche „prinzipienfeste“ Politik geraten war, und ist eine multilaterale Politik nicht auf die Supermacht USA angewiesen?
Einwände dieser Art verkennen, dass es zwischen der gegenwärtigen Politik der USA und der Linie des Multilateralismus nicht taktische, sondern grundsätzliche Differenzen gibt. Natürlich verfolgt die zweite Präsidentschaft Bushs die Linie, die ehemaligen Kriegsgegner in der Allianz einzubeziehen. Dies aber stets unter der Prämisse des Vorrangs amerikanischer Zielformulierung und Zielverfolgung. Diese Linie setzt auf wechselnde Allianzen, sperrt sich gerade gegen das Kernstück des Multilateralismus, die Selbstbindung kraft internationaler Rechtsnormen. Es ist durch nichts bewiesen, dass die breite Opposition in der Staatenwelt, die sich anlässlich des Irakkriegs gegen die amerikanische Vorgehensweise zeigte, auf der Ebene der UN nicht zu einem kohärenten und dauerhaften Zusammengehen im Zeichen des Antihegemonismus hätte führen können. So unterschiedlich die Interessen der Akteure, diese Zielsetzung hätte sie vereinen können.
Karl Marx hat einmal richtig bemerkt, dass sich Ideen stets vor Interessen blamieren. Deshalb gilt es festzuhalten, dass eine multilaterale, vertragsorientierte, auf gemeinsame Bewältigung globaler Probleme ausgerichtete Politik nicht (nur) ein Ideal darstellt, sondern den Interessen der entwickelten, kapitalistisch verfassten Industriestaaten entspricht. Fischers Problem besteht darin, dass er sich einer solchen präzisen Interessenformulierung entzieht. Einzelne Bruchstücke rot-grüner Politik, die der universalistischen und multilateralen Orientierung entsprechen, von der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs bis zu Elementen der Global Governance werden von ihm nicht zu einer zusammenhängenden Strategie verdichtet. Tatsächlich verschieben sich bei ihm die Gewichte der Argumentation. Von einer prinzipiengeleiteten Realpolitik hin zum „Realismus“ der klassischen Machtpolitik. Wodurch auch seine europäische Orientierung jene Züge einbüßt, die der EU eine Ausrichtung auf die Weltgesellschaft aufgegeben haben.
Hier wird nun versucht, diese Verengung wesentlich auf die Expansion des Bundeskanzlers und seine rabiate Version „deutscher Interessen“ in Fischers Reich zurückzuführen. Wie auch die systematische Abwertung menschenrechtlicher Gesichtspunkte etwa im Verhältnis zu China und Russland oder die Zunahme der Waffenexporte das Werk Schröders sei. Wenn man das mediale Erscheinungsbild der Politik ansieht, spricht einiges für diese Annahme. Sollte sie zutreffen – umso schlimmer für Fischer.
Weil unter seiner Amtsführung die Konturen einer möglichen grünen Außenpolitik sich auflösten, musste es Fischer schwer fallen, der Visa-Kampagne der CDU rechtzeitig und wirksam entgegenzutreten. Was Fischer als grünen Ballast abgeworfen hat, fehlt ihm jetzt: ein Gegenentwurf zum konservativen, von Macht- und Sicherheitsdoktrinen beherrschten Weltbild. Der einstige „Realo“ hat sein Terrain verlassen. Damit aber auch die Fähigkeit eingebüßt, dem Roll-back der Konservativen offensiv zu begegnen. Jetzt findet der Streit auf dem Boden eines „Realismus“ statt, wo es für „grüne Realos“ nichts zu gewinnen gibt. CHRISTIAN SEMLER