: Der Daumen schüttelt nicht nur Pflaumen
Ein abseitiges Genre der Kunstgeschichte wird in der Düsseldorfer Kunsthalle weltweit zum ersten Mal in einer großen Ausstellung gewürdigt. Das Daumenkino hat eine lange Geschichte. 1868 wurde es in England sogar patentiert
Eine knapp beschürzte Frau verrenkt sich in seltsamen Stellungen, hebt ihr Becken und schwingt die Beine in die Luft. Auf jeder Seite des mittelgroßen Daumenkino-Buches befinden sich drei Fotoreihen übereinander. Verglichen mit Jane Fondas Aerobic-Videos sehen die Bewegungen dieser Dame freilich etwas steif aus – und doch, gemessen an dem sichtbaren Alter der Bilder, eigentlich recht verwegen. Ein Blick in die Legende: Es handelt sich um bildliche Anweisungen zur richtigen Beckenbodengymnastik, herausgegeben 1933 in England. Es geht offenbar um die mit Gymnastik zu erzielende Steigerung weiblicher Gebärfähigkeit. Oder geht es doch um die sexuelle Stimulation der Frau? Leider ist das kostbare Heft in eine Vitrine gesperrt. Seine Animation bleibt unserer Phantasie überlassen.
Das kleine Daumenkino, dessen Erzählung sich erst beim Blättern entfaltet, hat eine lange Geschichte. 1868 wurde das gar nicht mehr so neue Medium durch den englischen Drucker John Barnes Linett patentiert. Seither hat das Taschen-Kino nicht nur unter der Schulbank einen Siegeszug angetreten. Die frühen Bilderserien waren inhaltlich noch recht belanglos. In minimalen Variationen wiederholten sich die immergleichen Szenen und Bewegungen. Die anfängliche Euphorie richtete sich offenbar darauf, die diversen Möglichkeiten und Techniken zu erproben. So entstanden verschiedene Abspielgeräte, hinter deren immer anderen Bezeichnungen (Kineograph, Mutoskop, Filoscope u.a.) sich eine einfache Mechanik versteckte. Die Mechanisierung des Blätterns diente dazu, die Bilder in Bewegung zu versetzen und in dem kleinen „Film“ eine Szene narrativ aufzuladen oder eine kurze Geschichte zu erzählen. Hier lassen die bewegten Bilder eine frühe Konkurrenz zum Film spürbar werden, der nach einer kurzen Phase sein technisches Experimentieren zugunsten der illusionistischen Hypnotisierung des Publikums aufgab.
Dass die bewegten Bilder in einem engen Verhältnis zu Kunst und Film im 20. Jahrhundert stehen, belegen in der Düsseldorfer Daumenkino-Ausstellung nicht nur die unzähligen historischen Exponate, sondern vor allem auch die Objekte zeitgenössischer KünstlerInnen und FilmemacherInnen, die sich mit dem Daumenkino einen Spaß erlauben. William Kentridge, Pedro Almodóvar, Bruce Nauman und Tacita Dean, Tony Oursler und Dieter Roth, um nur einige wenige zu nennen, deuten das Spektrum künstlerischer Vielfalt an, welches sich in den kleinen Künstlerbüchern oder den kurzen Filmen zeigt. Teilweise auf DVD animiert, teilweise selbst zu blättern oder auch nur unter Glas zu bestaunen, entfaltet sich die kleine Welt der Miniatur-Bilder-Bücher. Werke von rund 170 KünstlerInnen sind in Düsseldorf versammelt. Es ist die weltweit erste Museumsausstellung. Für eine neue Realismus-Debatte scheint das künstlerische Daumenkino noch zu harmlos und verspielt. Es bleibt eine Ahnung von möglicher Potenz. KÄTHE BRANDT