: Schwarzer Selbsthass
Dem schwarzen Amerika geht es so schlecht wie selten zuvor. Linke Bürgerrechtler üben sich angesichts dieser Situation in Selbstanklagen: Vor allem fehle es gegenwärtig an Führungspersonal. Und Toni Morrison wünscht sich gleich den Blues zurück
VON SEBASTIAN MOLL
Devon Brown war gewiss kein Musterknabe, aber gefährlich war er bestimmt auch nicht. An einem Sonntag im Februar 2005 hatte der 13 Jahre alte schwarze Junge aus South Los Angeles mit seinem Kumpel einen Toyota geklaut und fuhr den Boulevard auf und ab. Als die beiden eine Polizeisirene hörten und im Rückspiegel Blaulicht sahen, gerieten sie in Panik und setzten den Wagen in einen Zaun am Straßenrand. Browns Freund stieß die Tür auf und rannte davon und das hätte Devon wohl lieber auch tun sollen. Denn Sekunden später war er tot – der Polizist feuerte zehn Schüsse auf den Jungen ab.
Der Vorfall brachte Los Angeles erneut an den Rand von Rassenunruhen – ähnlich wie 1992, nachdem weiße Polizisten den Schwarzen Rodney King ohne Anlass beinahe zu Tode geprügelt hatten. Am brutalen und offenkundig rassistischen Vorgehen weißer Polizisten gegen Schwarze hat sich trotz des Aufstandes von 1992 nichts geändert. Nur vier Tage bevor Devon Brown erschossen wurde, wurde ein Videoband veröffentlicht, auf dem ein L. A. Cop den Schwarzen Stanley Miller 11-mal mit einer Stablampe schlägt. Auch Miller stand im Verdacht, ein Auto aufbrechen zu wollen. „Noch ein paar solcher Vorfälle und die Stadt explodiert wieder“, fürchtet die Bürgerrechtsanwältin Connie Rice.
Die Situation in Los Angeles ist symptomatisch für die Situation der Schwarzen in Amerika. Die Unruhen von 1992 waren für alle, denen die schwarze Sache am Herzen liegt, ein erschütternder Tiefpunkt. Und an diesem Tiefpunkt verharrt Amerika bis heute wie versteinert. Was nicht zuletzt daran liegt, dass über die tieferen Ursachen der Aufstände von 1992 bis heute kaum gesprochen wird.
Der linke Bürgerrechtler Cornel West sieht in den Ereignissen von 1992, als Schwarze vor allem ihre eigenen Wohnviertel in Flammen aufgehen ließen, den Ausbruch eines tief sitzenden Nihilismus: „Wir müssen uns, um das zu begreifen, in jene trüben Gewässer wagen, in die sich weder Konservative noch Liberale hineintrauen, in die Gewässer der Verzweiflung und des Überdrusses, der die Straßen des schwarzen Amerikas überschwemmt. Wir müssen dem monströsen Verlust jeglicher Hoffnung in die Augen schauen sowie der völligen Abwesenheit von Achtung vor sich selbst und vor anderen.“
Dem schwarzen Amerika geht es so schlecht wie selten zuvor. „Drei Jahrzehnte nach den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung“, sagt der New Yorker Soziologe Stanley Aronowitz, „ist die Trennung von Weiß und Schwarz mit Macht zurückgekehrt.“ Die Stadtflucht der weißen Mittelschicht hat die Innenstädte noch mehr als zuvor in schwarze Ghettos verwandelt. Schwarze und Latinos bilden im amerikanischen Arbeitsleben unverändert den Bodensatz. Ihre Situation hat sich allerdings dadurch verschlimmert, dass es im Zuge der Globalisierung immer weniger Beschäftigung für ungelernte Arbeiter in den USA gibt. Die Hoffnung auf bessere Ausbildung durch die Aufhebung der Rassentrennung in Schulen vor nunmehr 50 Jahren hat sich nicht erfüllt; die Schulen in den Innenstädten sind rein schwarz geblieben, weil keine Weißen mehr dort leben, und die Qualität der Ausbildung ist schlechter denn je.
Laut offizieller Statistik leben zwar nur noch 25 Prozent schwarzer Familien unterhalb der Armutsgrenze. Diese Grenze ist jedoch mit 17.000 Dollar für einen vierköpfigen Haushalt eindeutig zu niedrig angesetzt: In den meisten Städten ist eine Dreizimmerwohnung schon lange nicht mehr unter 14.000 Dollar im Jahr zu mieten. Der offene Rassismus, der sich einst in Rassentrennung und Diskriminierung manifestierte, ist durch einen subtileren, aber deshalb nicht weniger wirksamen wirtschaftlichen Rassimus ersetzt worden: „Trotz der legalen Sicherung der Bürgerrechte“, sagt Aronowitz, „definiert das Stigma der Rasse weiterhin die wirtschaftliche und soziale Situation von Schwarzen.“
Auch das Entstehen einer schwarzen Mittelschicht hat nach Ansicht schwarzer Bürgerrechtler der schwarzen Sache nicht weiter geholfen. In den vergangenen 20 Jahren sind 25 Prozent der schwarzen Bevölkerung in die Mittelschicht aufgestiegen. „Diese Mittelschicht ist allerdings“, schreibt Cornel West, „dekadent und unfähig, politische und intellektuelle Führer hervorzubringen.“ Wie ihre weißen Gegenüber seien die Angehörigen der schwarzen Mittelschicht von Statussymbolen und vom Konsum besessen. Darüber hinaus produziere ihr weißes Umfeld unter ihnen einen Selbsthass, der sie daran hindere, sich für die zurückgebliebenen Brüder und Schwestern im Ghetto einzusetzen. Schwarze Karrieristen wie Condoleezza Rice wollen nicht als schwarz wahrgenommen werden – sie wollen zum weißen Amerika gehören. Eine Tatsache, die laut West am tragischsten in den Metamorphosen des Michael Jackson zum Ausdruck kommt.
Der gegenwärtige Stand der Dinge lässt die Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre wie ein allzu kurzes Aufflackern von Hoffnung erscheinen, das die schwarze Sache wegen seiner Flüchtigkeit nur in eine umso tiefere Hoffnungslosigkeit gestürzt hat. Nur für den kurzen historischen Moment vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis 1965 konnte die schwarze Sache genügend Dringlichkeit im nationalen Bewusstsein entwickeln, um greifbare Erfolge zu erzielen.
100 Jahre nach dem Ende der Sklaverei konnte die Bürgerrechtsbewegung der 50er- und 60er-Jahre endlich die juristische Gleichstellung der Schwarzen im Süden – die Aufhebung des „Jim Crow“ genannten Apartheid-Systems – durchsetzen. Vorangetrieben wurde die Bewegung von einer Generation charismatischer schwarzer Anführer: Martin Luther King und Malcolm X formulierten Strategien für die schwarze Befreiung und lebten vor allem schwarzen Amerikanern Stolz und Selbstachtung vor. Heute geistern sie als Ikonen durch die amerikanische Popkultur und zeigen dort, wo sie auftauchen, eigentlich nur die Leere an, die sie hinterlassen haben. Neben vielem anderen fehlt es dem schwarzen Amerika unserer Tage vor allem auch an Führungspersönlichkeiten.
Der letzte politische Anführer des schwarzen Amerika war im Wahlkampf von 2004 der demokratische Präsidentschaftskandidat Al Sharpton – nach Ansicht weißer wie schwarzer Kritiker vor allem ein Selbstdarsteller ohne politische Vision. Als etwa der Protest gegen US-Militärübungen auf der puertoricanischen Insel Vieques im Sommer 2000 in den Schlagzeilen war, machte sich der Prediger aus Brooklyn kurzerhand zum Vorkämpfer für die puertoricanische Sache und wurde bei einer Kundgebung verhaftet. Im Gefängnis veranstaltete er einen spektakulären Hungerstreik, bei dem er 20 Kilo abnahm – seither begegnet man ihm als Diätberater in amerikanischen Lifestyle-Magazinen.
Ein konkretes Programm für die Gleichstellung schwarzer Amerikaner hat Sharpton nicht. Sharpton sei kein ernst zu nehmender Politiker, sondern professioneller Satiriker, schrieb deshalb der New Yorker, und in diesem Licht müsse man auch seine Präsidentschaftskandidatur sehen: „Er ist nicht angetreten, um zu zeigen, was ein schwarzer Mann in Amerika erreichen kann. Er ist angetreten, um zu verlieren und um somit einmal mehr zu zeigen, was Schwarze in Amerika eben nicht erreichen können.“
Insofern passt Sharpton bestens in die nihilistische Grundstimmung, die laut Cornel West im schwarzen Amerika unserer Tage vorherrscht. Eine Grundstimmung, so West, gegen die das schwarze Amerika keine Widerstände mehr aufzubieten hat. Die starken kulturellen Puffer, die über Jahrhunderte das schwarze Amerika vor der Verzweiflung bewahrt haben, verschwänden seit Ende der Siebzigerjahre zusehends; jene Puffer der Religion und der Musik etwa, die selbst im Angesicht grausamster Diskriminierung und Unterdrückung Schwarzen eine spirituelle Heimat unter ihresgleichen geboten hatten. Die Durchdringung schwarzer Kultur und Gesellschaft von den Mechanismen des Marktes habe diese tragenden Strukturen jedoch unwiderbringbar zerschlagen. Allein im HipHop sieht West noch Überreste dieser rettenden Kraft.
Schwarze Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit weniger Talent zum Sarkasmus als Sharpton kämpfen deshalb schwer gegen die Verzweiflung an: „Ich bin verängstigt und deprimiert“, sagt etwa die Literatur- Nobelpreiträgerin Toni Morrison. Kraft, so Morrison, gebe ihr nur noch der Blues: „Im Blues steckt der Verlust und der Schmerz, aber auch der Entschluss, sich trotz aller Schmerzes nicht unterkriegen zu lassen.“ Eine solche irrationale Kraft, einen solch nackten Trotz gegenüber der Hoffnungslosigkeit braucht das schwarze Amerika dringend.