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Archiv-Artikel

DENIZ YÜCEL ÜBER BESSERDER STINKSTIEFEL HAT GESPROCHEN Ich, ich, ich, wir, Ossis, ich, ich, Deutschland, ich, ich, Gauck!

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | KOLUMNE@TAZ.DE

Mittwoch Natalie Tenberg Habseligkeiten

Donnerstag Josef Winkler Wortklauberei

Freitag David Denk Fernsehen

Montag Susanne Klingner Die Farbe Lila

Dienstag Julia Seeliger Bio

Was für ein schöner Sonntag. Was für ein selbstverliebter Einstieg! Aber nein, nur etwas kokett. Denn: Es war der 18. März, heute vor genau 22 Jahren, und wir hatten gewählt. Jup! Wir, das waren Millionen Ostdeutsche, die nach 56-jähriger Herrschaft von Diktatoren endlich Bürger sein durften. Dass wir 56 Jahre lang nicht wählen konnten, hatte aber nichts damit zu tun, dass Papa und Mama Gauck beim letzten Mal den Führer gewählt haben. (…)

Ich selber hatte als Sprecher des Neuen Forums in Rostock daran mitwirken dürfen. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um den Laden zu übernehmen. (…) Jetzt schickten wir uns an, Freiheit zu etwas und für etwas zu erlernen. Zum Beispiel als Freiheit zum Ausländerklatschen. Nie werde ich diese Wahl vergessen, niemals. Dafür habe ich vergessen, wo ich war, als das Blumenhaus in Rostock brannte.

Und ich habe damals gefühlsmäßig bejaht, was ich mir erst später theoretisch erarbeitet habe, dass aus dem Glück der Befreiung – dieses Wort musste unbedingt einmal in einer Präsidentenrede untergebracht werden – die Pflicht, aber auch das Glück der Verantwortung erwachsen muss. Jawohl! Und dass wir Freiheit in der Tiefe – sowie in der Höhe und der Breite – erst verstehen, wenn wir ebendies bejaht und ins Leben umgesetzt haben.

Heute nun haben Sie, die Wahlfrauen und -männer, einen Präsidenten gewählt, der sich selbst nicht denken kann ohne diese Freiheit und der sich sein Land nicht vorstellen mag und kann ohne die Praxis der Verantwortung. Und der auch mal einen Satz ohne „ich“ sagen kann – nämlich wenn er in der dritten Person über sich selbst redet. (…)

Ganz sicher werde ich nicht alle Erwartungen, die an meine Person und meine Präsidentschaft gerichtet wurden, erfüllen können. Wo kämen wir da auch hin? Aber eins kann ich versprechen: Dass ich mit all meinen Kräften und meinem Herzen Ja sage zu der Verantwortung, die sie mir heute übertragen haben. Und nicht etwa sage: Geil, bin ich jetzt Chef vom Ganzen, was noch jeder Kegelbruder denkt, der Vorsitzer des Alle Neune e. V. wird, in seiner Dankesrede aber von „Verantwortung“ spricht. (…) Das heißt auch, dass ich mich neu auf Themen, Probleme und Personen einlassen werde – welche das sind, werden meine Referenten schon herausfinden –, auf eine Auseinandersetzung auch mit Fragen, die uns heute in Europa und in der Welt bewegen. Neben den Fragen, die mich bewegen. (…)

Ob wir also als Wahlbevölkerung am Fundament der Demokratie mitbauen oder ob wir als Gewählte Weg und Ziel bestimmen – wobei es natürlich lustiger ist, den Weg des Fundaments zu bestimmen, als immer nur den Beton zu mischen –, es ist unser Land, in dem wir Verantwortung übernehmen, wie es auch unser Land ist, wenn wir die Verantwortung scheuen. Wenn wir denen, die nichts haben, auch nichts geben wollen, geben wir ihnen ihr Land. Ist viel billiger als Zahnersatz. (…) Es ist der Mühe wert, es unseren Kindern so anzuvertrauen, dass auch sie zu diesem Land „unser Land“ sagen können. Und zu diesem Stinkstiefel „unser Stinkstiefel“!

Besser: Besser Sie lesen die ganze Gauck-Rede auf taz.de