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Archiv-Artikel

„Wo ist vorne?“

Die Geschichte ist ein Haufen, sagt Dokumentarfilmer Thomas Heise. Was er damit meint, zeigt sein Montage-Film „Material“

Thomas Heise

■ geboren 1955 in Berlin, ist freiberuflicher Autor und Regisseur ■ war Meisterschüler von Gerhard Scheumann in der Akademie der Künste der DDR■ drehte u. a. „Stau – Jetzt geht’s los“ (1992) über die rechtsradikale Jugendszene in Halle, „Heiner Müller I“ (1987) sowie „Mein Bruder. We Will Meet Again“ (2005).

INTERVIEW ROBERT MIESSNER UND ALEXANDER REICH

taz: Herr Heise, Sie haben die Interviewform mehr als einmal für erledigt erklärt. Wozu könnte das Interview jetzt hier gut sein?

Thomas Heise: Das weiß ich nicht. Das sind zwei verschiedene Sachen. Das eine sind Filme. Das andere ist Presse. Ich kann im Moment bei meinen Filmen mit Interviews nicht viel anfangen. Mich interessiert es mehr, zuzugucken. Wenn du nicht miteinander redest, musst du genau hinsehen, wie sich die Figur im Bild erzählt.

Ein Interview kann leicht zum Verhör werden. Oder man muss ständig irgendwelche Missverständnisse korrigieren. Gestern hat jemand mit mir geredet – ich weiß schon wieder nicht mehr, wer –, und es ging um eine Sequenz aus „Material“: „Man kann sich die Geschichte länglich denken. Sie ist aber ein Haufen.“ Da heißt es dann: Sie haben gesagt, man soll die Geschichte nicht als Linie sehen, sondern als Haufen. Das habe ich natürlich nicht gesagt. Das ist wie bei stiller Post. Lebensgefährlich.

„Material“, das sind historische Dokumente, zwischen denen kaum Zusammenhänge hergestellt werden. Das ist doch die Geschichte als Haufen?

Der Satz fasst den Film gut zusammen. Eine Entdeckung, die ich beim Schnitt gemacht habe. Aber natürlich werden Beziehungen hergestellt. Du setzt das beim Schnitt erst mal chronologisch, dann stellt sich heraus: Vor das Material von 1988 muss das von der Räumung der Mainzer Straße 1990, weil das der Moment ist, wo Ordnung wiederhergestellt wird. Nach der Anarchie ist der erste Akt des neuen Deutschlands, Utopie zu zerschlagen. Und zwar mit massiver militärischer Gewalt. Das ist genau das, was stattgefunden hat in der Mainzer Straße. Deswegen ist das vorn. Und dann geht’s zurück nach 1988. Du landest im Theater, wo es um eine Geschichte über das Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauerraum geht. Ein Verhältnis wie das zwischen Polizei und Besetzern oder Macht und Volk.

Ist die Geschichte also doch kein Haufen?

Doch, der Satz stimmt. Und ein Haufen hat innen und außen, Offenbares und Verdecktes. Das Schöne ist, dass Geschichte im Deutschen auch Erzählung bedeutet.

Arbeiten Sie noch mit Texten Ihres Vaters, dem Philosophen Wolfgang Heise?

Ich bin zunächst Drucker geworden, weil ich romantisch zur Arbeiterklasse wollte. Niemals Intellektueller. Es ging erst mal darum, sich zu distanzieren. Ich bin mit ihm klasse klargekommen, das ist nicht der Punkt. Aber Film habe ich wahrscheinlich auch gemacht, weil er davon keine Ahnung hatte. Er beschäftigte sich über den Umweg des 19. Jahrhunderts mit der Gegenwart. Auch eine Folge von Geschichte. Ich habe einige Sachen von ihm genutzt: seine Herder-Vorträge zum Beispiel. Mit einer Formulierung wie „die Wirklichkeit des Möglichen“ kann ich natürlich viel anfangen. Oder die „Freimaurer-Gespräche“: Du kannst ja schon lügen, indem du die Wahrheit erzählst. Aber seine Sachen sind schwierig und versteckt in Satzungetümen. Man kann da viel entdecken, aber das hat keine Chance. Wirklich gearbeitet habe ich wahrscheinlich mit seinen Briefen aus dem Lager. Daraus ist der Film „Vaterland“ geworden, der nur einen einzigen Brief von ihm enthält.

Haben Sie etwas vom historischen Optimismus ihres Vaters?

Natürlich. Wenn du die DDR überlebt hast, dann weißt du, dass du die Bundesrepublik auch überleben wirst. Ist ja wohl klar.

Wie kann ein Haufen Anlass für Optimismus sein?

Gerade der Haufen. Ich will jetzt nicht sagen, in der Scheiße ist’s gemütlich. Aber man kann lange drin herumwühlen und Entdeckungen machen. Das hat damit zu tun, dass Dinge, die vergangen sind, versunken, immer noch da sind. Das Verhältnis DDR-Bundesrepublik kannst du auch als eines zweier Parallelwelten beschreiben. Die sind jetzt ineinander verschränkt worden und laufen parallel weiter. Für mich sind Figuren wie Heiner Müller, die nicht mehr da sind, nach wie vor Gesprächspartner, wenn ich da was lese. Das hebt Abfolge auf.

Aber historischer Optimismus ist die Überzeugung, dass es prinzipiell nach vorne geht.

Wo ist denn vorne?

Noch mal zur Räumung der Mainzer Straße. Viele, die dabei waren, hatten das erste Mal richtig Angst vor der Polizei. Ging es Ihnen ähnlich?

Das war nicht mehr lustig. Da ging gar nichts mehr. Diese absolute Kommunikationslosigkeit nach den Dialogerfahrungen des vergangenen Jahres war das Neue. Ein Mann brüllt in „Material“: Hört auf! Hört Auf! Das ist Tiananmen Platz.

Zu dem „Material“ vom 8. November 1989: SED-Mitglieder versammeln sich vor dem Gebäude des Zentralkomitees ihrer Partei, werden besänftigt, singen plötzlich die Internationale …

Sie singen zum Feierabend. Im Film ist zunächst mal der Text, stumm. Damit man die Botschaft mal wieder zur Kenntnis nimmt. Dann singen mehrere Fraktionen. Und die singen nicht zusammen, sondern versetzt nacheinander, was an der Situation liegt und auch die Fraktionen markiert. Die Regierung war zurückgetreten, ein neues Politbüro, das praktisch das alte war, sollte durchgesetzt werden. Die Basis akzeptierte ihre Führung so nicht mehr. Das war neu. Die hätten die möglicherweise auch aus dem Gebäude geholt. Das musste beendet werden, mit Rednern wie dem, der sagt: „Liebe Genossen, ich bitte darum, dass Ruhe einkehrt, unsere Macht ist die Disziplin.“ Die Opposition wird von unten mit der Maueröffnung kaltgestellt. Es ging darum, den Arsch zu retten, und sei es für drei Wochen. Für mich war das eine Putschsituation. Drei Tage später wäre von der Führung niemand mehr da gewesen. Und wir hätten möglicherweise wirklich noch was anderes erlebt.

Die Parteibasis hätte die Führung in drei Tagen weggeputscht?

„Material“

■ ein Film von Thomas Heise, Deutschland 1988–2009, 166 Min. s/w und Farbe, Kamera: Sebastian Richter, Peter Badel, Thomas Heise, Jutta Tränkle, Börres Weiffenbach. Finanziert von der Kulturstiftung des Bundes ■ „Material“ ist Teil einer Rauminstallation Thomas Heises für die Ausstellung „Übergangsgesellschaft“ in der Akademie der Künste Berlin, Pariser Platz 4, die noch bis zum 11. Oktober 2009 läuft.■ Die DVD erscheint in der edition filmmuseum. „Spuren einer Archäologie der realen Existenz“, ein Buch mit Materialien zur filmischen Arbeit und mit Materialien von Thomas Heise erscheint als Band 13 in der DFI-Buchreihe „Texte zum Dokumentarfilm“. Mit: Heiner Müller, Freygang, Erwin Geschonneck, Rudolf Bahro.Beide 2010.

Nicht geputscht, nach Hause geschickt.

Die Stimmung vor dem ZK-Gebäude bleibt doch recht gesittet.

Aber es hätte eine Auseinandersetzung gegeben. Krenz sagt: Lest morgen die Rede, die ich gehalten habe und urteilt dann. Da fangen sie an zu pfeifen. Als Krenz rauskam, wurde noch gekreischt, interessanterweise von den Sekretärinnen. Es sind Frauenstimmen, die losquietschen, als würde der große Rockstar kommen. Die alte Garde wollte sich halten. Dafür musste sie sorgen.

Indem sie am nächsten Abend die Mauer aufmachte?

Man musste den Druck vom Kessel nehmen. Eine wirkliche Revolution ist unkontrollierbar. Und sie wollten kontrollieren. Sie konnten sich gar nicht vorstellen, dass es ohne sie gehen würde. Dann gingen die Leute einkaufen und ließen sie in Ruhe. Hermann Henselmann hat dazu gesagt: „Aus Kommunisten werden Kunden.“ Die Maueröffnung hat in der Dynamik damals dann dazu geführt, dass die Köpfe mit Produkten beschäftigt wurden, nicht mehr mit Ideen. Die wachen Gesichter vom November habe ich danach nicht mehr gesehen.

Was das Erinnern an die DDR nicht leichter macht, ist das ständige Gerede über die Stasi.

Das ist die Besetzung von Bildern durch Begriffe: Das Bild DDR wurde besetzt mit dem Begriff Stasi. Was ich mit „Material“ versuche, ist, die utopischen Elemente wieder sichtbar zu machen, zumindest fragmentarisch in Erinnerung zu holen, und sei es als Leerstelle. Dass man sieht, da war doch noch was. Das hat darüber hinaus Möglichkeit oder weckt Interesse. Das meine ich mit den wachen Gesichtern vom November, die ich so nicht mehr sehe. Da ist eine Sehnsucht, und man merkt: Die ist verloren. Meine Neugierde hat sich auch verändert. In der DDR ging es immer darum, Informationen zu bekommen, wahrzunehmen, den Kopf und den Blick offenzuhalten. Das wird jetzt gern darauf reduziert: Wo kriegte ich was zu kaufen? Als ginge es nur darum. Damals musstest du sehen: Wo kriege ich ein Buch her, das ich unbedingt lesen will? Du musstest immer wach sein und alle Informationen sofort aufnehmen und verarbeiten. Überall hingucken. Da das Ganze nicht zu bekommen war, musste man lernen Bruchstücke zu Ende zu bauen, fehlende Texte zwischen den Zeilen zu lesen.

Das Erste, was du lernst in der folgenden Gesellschaft, du musst weggucken, musst dich abschotten, weil nahezu alle Informationen Informationen über Waren sind, die du kaufen sollst. Es geht nicht darum, dass diese Dinge für dich gut sind, es geht darum dass du sie kaufst. Du als Adressat bist ansonsten ganz uninteressant. Dein Kopf wird zugemüllt mit Geschwätz. Es gibt immer mehr Scheiße. Und ich muss mich wehren, weil ich sonst verblöde. Ich muss mich abschotten, ich nehme keinen Kontakt mehr zur Umwelt auf, das fällt alles flach. Und das ist eine grundsätzlich andere Lebensform.