: „Ein Leben, das ich bejahen kann“
WERTE Die Philosophin Birgit Recki erklärt, was Freiheit ist – für Gauck, Janis Joplin und sich selbst
■ Die Forscherin: Die 1954 geborene Professorin für Philosophie an der Hamburger Universität mit den Schwerpunkten Ethik, Ästhetik, Kulturphilosophie und Anthropologie forscht zurzeit als Fellow am Wissenschaftskolleg Greifswald über Freiheit und Technik. Sie ist Herausgeberin der Gesammelten Werke des Philosophen Ernst Cassirer und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. 2009 erschien ihr Buch „Freiheit“ im UTB Verlag.
■ Im Gespräch: Unter dem Titel „Denn das Gute liegt so nah? Hannah Arendt neu gelesen oder: Haltungen, Anstand und Stil in der politischen Krise“ spricht Birgit Recki an diesem Samstag mit Jan Feddersen beim tazlab in Berlin.
INTERVIEW JAN FEDDERSEN FOTOS OLAF BALLNUS
sonntaz: Frau Recki, Sie haben ein schönes, schlankes Buch über die „Freiheit“ geschrieben – ein akademischer Kunstgriff. Wann haben Sie Ihre erste Freiheitserfahrung gemacht?
Birgit Recki: Als ich das erste Mal verreist bin, also nicht mit meinen Eltern, sondern alleine mit Freunden, da war ich 15. Ich war der Kontrolle entzogen, und es war natürlich keineswegs eine ausgemacht Sache, dass ich wirklich wie geplant mit dem Zug fahren würde.
Die junge Birgit Recki auf dem Weg in die Welt?
Nach Südfrankreich, Marseille als Ziel!
In welchem Jahr war das?
1969! Meine Mutter legte Wert darauf, dass ich eine Bahnfahrkarte hatte. Natürlich bin ich dann auch streckenweise mit Freunden getrampt und habe auch sonst alles Mögliche gemacht, was einzig und allein auf meine Regie zurückzuführen war. So war, glaube ich, das ganze Syndrom: allein, ohne Aufsicht zu verreisen und dort eben machen zu können, was ich will.
War Ihnen das im Moment des Reisens denn bewusst?
Sehr bewusst, ja tatsächlich. Jugendlich, wie wir waren, wussten wir immer, dass es auch riskant sein würde zu trampen. Aber das hat uns nicht erschreckt – im Gegenteil. Wir wollten ja Abenteuer und damit auch Situationen, in denen man immer auch Glück haben muss und nicht unbedingt ganz über den Moment bestimmen kann.
Weshalb war das Mittelmeer das Ziel – des Essens wegen?
Ich habe damals auf dieser Reise sehr wenig ans Essen gedacht. Mir schwebte die Landschaft vor und dass ich unter meinesgleichen sein würde, die sich für das Gleiche wie ich selbst interessierten – Popmusik. Wir hörten vorzugsweise Pink Floyd.
Die Lieblingsmusik mitnehmen – heutzutage ganz einfach. Doch damals?
Wir hatten ein Kofferradio und versuchten Sender zu finden. Und an den Stränden und in den Jugendhotels, wo wir übernachteten, traf man auf Leute, die ihre Gitarre dabeihatten. Aber ums Musikhören ging es in der aktuellen Situation ja gar nicht. Sondern darum, dass man überhaupt unter Gleichgesinnten war, mit denen man im selben Fahrwasser schwamm.
„Freedom is just an other word for nothing left to lose“, röhrte damals Janis Joplin. War das auch Ihr Begriff von Freiheit – ein anderes Wort dafür, nichts mehr zu verlieren zu haben …
… diese Zeile ist gewiss so eines der Embleme, die diese Zeit markierten.
Was war das für eine Zeit?
Tja, wir machten Theoriearbeitskreise, versuchten uns schon in der Oberstufe an die marxistische Bildung heranzustasten. Der Begriff der Freiheit war in unseren Überlegungen tatsächlich präsent. Wenn auch in einer ziemlich diffusen und eben jugendlichen Weise.
Wie dachten Sie sich Freiheit?
Mit einer gewissen Naivität, na klar. Zum Beispiel, dass es überhaupt nichts geben darf, was mich beschränkt. Schon die geringste Beschränkung war nicht in Ordnung. Es war die Zeit, in der Leute wie ich durchaus ernsthaft bei roten Ampeln von struktureller Gewalt sprachen. Was für eine romantische Überhöhung – und: was für ein Kategorienfehler.
Um freie Liebe ging es doch auch, oder?
Der Umgang mit der damals noch sehr rücksichtslos propagierten Promiskuität in Liebesbeziehungen war frappierend. Sie erinnern sich doch auch noch an den Gemeinplatz, dass Treue nichts anderes ist als ein bürgerliches Besitzverhältnis.
Ja, so war das!
Mehrere Generationen von Studenten haben so gelebt und entsprechend ihren Liebsten, ihren Lieben, ihren Partnern und sich selbst manche Kränkung angetan. Dieser grenzenlose Anspruch auf Freiheit – das ging einfach nicht.
Welche Schlüsse haben Sie denn noch gezogen?
Dass Regeln nicht per se elterlichen Schikanen entspringen, nicht per se dem bloßen Recht der Herrschenden entsprechen, sondern dass es sinnvoll ist, wenn sich Menschen im Umgang miteinander Beschränkungen auferlegen. Und dass Regeln legitim sein können, ja, bis hin zu ihrer Formalisierung in einem Bürgerlichen Gesetzbuch.
Hat das Studium der Philosophie Ihnen bei Ihrer Suche behilflich sein können?
Ja, das war eine sehr gute Voraussetzung, nach den ersten Sturm-und-Drang-Zeiten allmählich zur Vernunft zu kommen. Das ging nicht ohne Brüche und Sprünge, aber es half enorm.
Wobei genau?
Dass ich meinen Weg finden konnte, auf meine Weise. Für mich war es zum Beispiel sehr wichtig, einen gewissen großzügigen Umgang mit der Zeit zu haben während meines Studiums, also auch mal verschiedene Erfahrungen mit verschiedenen Ansätzen, Positionen, Theorien und Welterklärungsmodellen durchlaufen zu können. Wenn ich mir heute angucke, wie verschult das Studium ist und wie dabei eben auch Zeitknappheit konstitutiv gemacht worden ist, und wenn ich das mit der langen Zeit vergleiche, die ich gebraucht habe, während meines Studiums nachhaltig zur Vernunft zu kommen, dann tun mir die heutigen Studenten leid.
Momentan arbeiten Sie an einem Forschungsprojekt zu Freiheit in Greifswald – dort sind Sie wieder eingezwängt, oder?
Oh nein, der Genuss liegt gerade darin, dass ich von den üblichen Alltagsverpflichtungen des Hochschullehrers befreit bin. Interessanterweise führt das bei mir zu einem lustvollen Rückfall in frühere bewährte Modelle. Hier in Greifswald, wo ich keine Termine um zehn Uhr morgens habe, hat sich sehr schnell rausgestellt, dass ich wie früher bis halb drei nachts oder noch länger am Computer sitzen bleiben kann. Was für ein Privileg!
Sprechen wir über den Freiheitsbegriff in heutiger Zeit. Linke haben sich sehr erregt, dass Joachim Gauck der Freiheit so einen Rang einräumte – den er für vorrangiger als den der Gerechtigkeit hält.
Ach, da gab es so viele Missverständnisse. Der Gerechtigkeitsbegriff lässt es ja zu, ökonomisch operationalisiert zu werden. Man denkt fast sofort an Verteilungsgerechtigkeit im Sinne wirtschaftlicher Güter.
Ist das nicht legitim?
Doch, selbstverständlich. Aber an dem Diskurs, der sich vor der Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten entfaltete, störte mich doch sehr diese Gedankenlosigkeit, besser Begriffsstutzigkeit. Es gibt doch einfach gedankliche Vorordnungs- und Nachordnungsverhältnisse: Was würden wir denn von einer Gerechtigkeit halten, die komplette Gleichverteilung aller vorhandenen Güter leistet, das aber in einer Diktatur?
Denkbar ist das, oder?
Eben. Wenn man das mal durchspielt, gibt es – ohne den Gedanken der Freiheit – durchaus die Möglichkeit einer Gerechtigkeit in einem totalitären System.
Wir haben ja realisierte Modelle in der Geschichte vor Augen …
… ja, etwa tendenziell die Idee der jüngst verblichenen DDR. Nur dass da eben auch dadurch noch manche Schönheitsfehler mit hineinkamen, dass etwa die Wirtschaft effektiv nicht so viel erbrachte, wie zur angemessenen Versorgung der Menschen erforderlich war.
Es war eine Diktatur?
Was denn sonst? Das steht uns noch anschaulich vor Augen in den tatsächlichen Lebensformen, die es da gegeben hat. Dann kommt man zu dem Ergebnis, dass eine solche Gerechtigkeit nichts wert ist. Also eine, bei der ich alles zugeteilt bekomme, was ich zum Leben brauche und der Nachbar auch nicht mehr bekommt als ich, ich aber keine bürgerlichen Rechte habe, gerade auch Rechte gegen den Staat, die die freiheitliche Verfassung gewährt – gespenstisch.
Ohne Freiheit …
… ist Gerechtigkeit nichts, für das es lohnte zu streiten.
Wofür lohnt es sich denn?
In meinen Augen zählt vor allem, dass das Individuum sich selbst bestimmen kann, dass man selbst entscheiden kann, wie man lebt, warum man wie lebt, warum man nicht anders lebt und welche Formen dieses Leben im Einzelnen annimmt.
Was könnte ein gutes Leben sein?
Na ja, ich denke, alle Menschen haben entsprechend der Tatsache, dass jeder ein Individuum ist, ganz eigene Vorstellungen von dem, was ein gutes Leben sein kann und ist. Eine strukturelle Gemeinsamkeit aber gibt es dabei doch: Ein gutes Leben ist immer eines, das ich auch selbst bejahen kann, und zwar grundsätzlich. Wenn es da irgendetwas gibt, das ich abschaffen oder von dem ich absehen muss, etwas, das ich gar nicht erst an mich rankommen lassen darf und am besten verdränge, dann ist das ein schlechtes Zeichen.
Können Sie das positiv formulieren?
Das gute Leben ist, wenn man das weiter denkt, immer das, das man vor sich selbst und vor anderen rechtfertigen kann. Das heißt ja auch immer vor den eigenen Ideen und Idealen und Ansprüchen mit Rücksicht darauf, dass auch die Anerkennung durch andere einem eine wichtige Rolle spielt.
Könnte man sagen, dass der eigene Lebensweg eigentlich darin besteht, den eigenen Sinn in einem Ja zu verankern?
Das ist eine Formulierung, der ich zustimmen kann. Wenn man das sagt, hat man ja vor allem im Sinn, dass dieses Ja auf einer Einsicht beruht. Nach allem, was man überhaupt über sich selbst und die anderen, das Leben und die eigenen Ansprüche weiß, unter Berücksichtigung all dessen, also aufgrund einer Einsicht Ja sagen kann. Das heißt für mich, dass die Idee der Freiwilligkeit und die Idee der Freiheit, sich seine eigenen Gedanken und Vorstellungen zu machen, da immer konstitutiv mit dazugehören.
Das ist ungefähr das, was sich auch als das Credo des Joachim Gauck umreißen lässt.
Das steht alles in seinem Buch über die Freiheit. Viele finden ja perfide, dass er die Freiheit angeblich überbetont – auf Kosten der Gerechtigkeit. Das ist jedoch unzutreffend, wahrscheinlich ist seine Schrift gar nicht gelesen worden. Gauck spricht im Zusammenhang von Freiheit immer von Verantwortung.
Und das meint Ihrer Lesart nach?
Er lässt gar keinen Zweifel dran, dass für ihn der Freiheitsbegriff mit Verantwortung zusammenhängt. Damit ist aber auch gesagt, dass er nicht irgendeine haltlose, anarchoide, rücksichtslose, völlig bindungslose Freiheitskonzeption vertritt, sondern dass es immer so ist, dass die Freiheit des einen ihre Grenzen an der ebenso berechtigten Freiheit des anderen findet, und damit ist die Frage nach der gleichmäßigen Sicherung von Ressourcen zur Realisierung der Freiheit aller bereits präsent. Man hätte sich die ganze Zeit schon klar machen können, dass er allein deshalb immer in der Nähe der Gerechtigkeit ist – und die Ignoranz, die da im Diskurs ausgelebt wurde, ist schon besonders verantwortungslos.
Hatten die Unterstellungen gegen Gauck nicht auch damit zu tun, dass viele Linke noch einem Land nachtrauern, das sie lieber am Leben wüssten?
Bestimmt ist das so. Die Trauernden meine ich aber nicht allein. Sondern auch den Teil der Linken, der immer noch sehr starke Interessen mit einem ganz anderen Bild verbindet. Die Linken, die bis heute immer noch nicht gesagt haben, wo die SED-Millionen eigentlich verblieben sind. Das war kein naives Verschweigen, sondern sehr absichtsvolles Übersehen.
Frau Recki, zur linken Tradition gehört auch die Mutmaßung, es gebe kein wahres Leben im falschen – so Theodor W. Adorno. Und was meinen Sie?
Das Wahre – das ich hier lieber in Anführungszeichen setzen würde – wird sich wohl immer nur im Kontrast zum Falschen erkennen und ermessen lassen. Insofern kann man sagen: Wahres Leben gibt es in gewissem Sinne gerade nur im falschen. Es setzt doch den Kontrast voraus. Nur wenn ich ein Bewusstsein von dem habe, was falsch ist, unterziehe ich mich der Mühe, „das Wahre“ herauszufinden.
Das wird sich wohl kaum abstrakt herausfinden lassen …
… nein, sondern immer nur mit Blick auf real Falsches. Vergessen wir also Adorno – wenigstens in dieser Frage.
■ Jan Feddersen, 54, taz-Redakteur für besondere Aufgaben und Autor, leitet das tazlab „Das gute Leben – es gibt Alternativen“
■ Olaf Ballnus, 49, ist freier Fotograf in Hamburg