: Hühner im Zitronenbaum
Was die Deutschen an Italien wirklich lieben: zum Beispiel das Leben an einem Samstagabend auf der Piazza in Pizzo. Ein Urlaubsversuch in Kalabrien abseits der touristischen Trampelpfade
Von UWE KRIST
Es ist früher Abend. Der gut fünfzigjährige Mann legt seine harte Pranke mit ihrem rissigen Mosaik aus Schwielen auf die Schulter seiner Mutter, als sie, wie alle hier, hin und her über die Piazza della Repubblica bummeln. Samstagabend in Pizzo im Süden Italiens am Golfo di S. Eufemia. Im Hintergrund senkt sich der Sonnenball durch dunkle Wolkenschichten und berührt schon die Spitze der Vulkaninsel Stromboli, die wie ein schwarzer Scherenschnitt eines künstlich anmutenden Theaterhintergrundes auf dem Horizont des Tyrrhenischen Meeres schwimmt.
Es ist mein Urlaub in einer Adresse ohne den Pauschal-Pomp und die Suggestionsmechanismen der Reiseveranstalter. Kann man, kann ich hier Urlaub machen? Etwas erleben ohne Langeweile, ohne Enttäuschung?
Zeit für meinen ersten Spaziergang. Ich reihe mich ein in die „passeggiata“. Der Laufsteg ist knapp achtzig Meter lang. Man bummelt über den polierten schwarzen Granitstein des Pflasters. Natürlich zieht man sich zu diesem Zweck extra um, auch die Kinder, als sei alle Zeit vor dieser nur eine Kostümprobe gewesen. Ein Ritus, der jeden ergreift. Man grüßt nach links und nach rechts: „Ciao, Franco!“ – „Ciao, Raffele!“ Es sind die ungeschriebenen Libretti des Lebens dieser Stadt, dieser Menschen. Man, ist, „Mamma!!“, nie wortlos und immer dramatisch.
Allein zu sagen, dass es heute nicht so kalt ist wie noch gestern, gottlob, und dass man gerade einen Parkplatz gefunden hat, dass die Schwester Rosanna aus Crotone angerufen hat, weil ihr Mann Antonio Galardo im vorgezogenen Freitags-Heimspiel gegen Triestina in der Serie B ein Tor geschossen hat, aber, leider, leider diese Schwachköpfe – mit Ausnahme von Antonio – trotzdem gegen den 14. der Tabelle verloren haben und nun am vorletzten Platz rumkrebsen. Kleinigkeiten, aber nie wirkliche Belanglosigkeiten.
Verkündet werden sie mit ungeheurer Lautstärke, begleitet von der Choreografie des ganzen Körpers und seiner handgreiflichen Gestik, die – schon allein mit den Fingerspitzen, aneinander gelegt, gespreizt, in die Luft gestochen – selbst einem Tauben eine dreiaktige Oper vorspielt.
Auch die Kulisse dieser Oper ist echt: um die rechteckige Piazza gruppieren sich ein- bis zweigeschossige Häuser, zumeist aus der Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts. Die Erdgeschosse sind Cafés und Eisstuben, in denen es das berühmte Tartuffo-Eis gibt, das hier erfunden wurde und als weniges über Pizzo Einzug in die Reiseführer fand: ein tiefgefrorener Eisklumpen mit süßem, flüssigem Kern, alles in Kakao gewendet. Nichts für Diäten.
Zudem Konfektionsläden, Friseure, ein kleines Reisebüro, Restaurants wie das „Ruota“, die schicke „Cantina del Castello“, das „Lampara“ an der Durchgangsstraße oder unten in der Marina am Lungo Corso Colombo das „Moby Dick“ und das „Forte della Monacella“ mit der schönsten Sonnenuntergangs- und Mondscheinterrasse überhaupt. Am östlichen Ende der Piazza hat alles seine Fortsetzung rechts neben dem Palazzo Nicola Mattei den Weg hinauf über den Corso Garbaldi bis zur Kirche des Heiligen Franziskus.
Ich sitze bei Mimmo, dem Juniorchef der über hundert Jahre alten Bar und Gelateria „Belvedere“ im Erdgeschoss des seit Jahren geschlossenen Hotels „Murat“. Der Espresso: zehn Sekunden lang muss der Löffel Zucker auf der Crema aushalten, bis er versinkt. Die Crema ist klasse.
Nebendarsteller in dieser Oper gibt es nicht, wohl aber feste Hauptrollen. Die hat man geerbt, besetzt sie wie die stets gleiche Kirchenbank mit dem eigenen Familiennamen auf den kleinen Schildern, die ich wie eine Ahnengalerie lese: Riga, Saveli, Musolino, Monteleone … Man kann diese gesellschaftlichen Bezüge nicht ändern. Das wäre eine Niederlage der ordnenden Kraft, die dieser urbane Mikrokosmos entwickelt hat. Und immer noch gehört hier das mit scharfem „S“ und gedehntem „A“ ausgesprochene „Salve!“ zu den schönsten und einfachsten Grußformeln. „Salve, Claudia!“
Gegen andere – fremdbestimmte – Regeln verstößt man dagegen gerne, ja mit Inbrunst. Fährt am liebsten ohne Helm, Einbahnstraßen scheinen – wie Ampeln – einfach nicht zu existieren. Seltsamerweise ist Hupen verpönt in diesem Teil Italiens – das ist ungewöhnlich für den, der schon mal durch Mailands, Roms oder Neapels Kakofonie getaumelt ist.
Und an jeder zweiten Ecke dieses fahrbare Brötchen, dieser wackere, tapfere Fiat 500, der legendäre Cinquecento in der jahrzehntealten Basisausstattung. Das ist eine stolze Gleichberechtigung gegenüber denen, die sich im bitterarmen Kalabrien mittlerweile mehr leisten können. Etwa zum Essen Bottarga, den irre teuren Rogen vom Tunfisch – „di tonno“ – oder von der Meeräsche – „di muggine“ – getrocknet und gepresst, in feinen Scheiben als Vorspeise oder gerieben oder gehobelt über der Pasta.
Kein Wunder, dass noch immer auch die Mafia, die hier „’ndrangheta“ heißt (pervertiert aus dem Griechischen „andreios“ – tapfer, männlich), zur unedlen Gegenwart gehört. Und sie mischt sich noch immer in vieles ein. Aber sie hat keinen Halt mehr in der Bevölkerung, regiert ohne Rücksicht und ohne ihr einstiges Charisma.
Ich nehme den Regionalbus und reise die Küste entlang nach Süden. Über Tropera ans Capo Vaticano, wo es die schönsten Strände gibt. Noch dominiert hier nicht der Griff gieriger Groß-Touristiker. Doch nagen Zeit und mangelnde Einnahmen aus der kurzen Spanne von Juni bis August am schönen Bild. Am Ende bleiben nicht nur das nicht weggeräumte Strandgut, sondern auch die bitteren Salze geplatzter Träume, die am Ende einer jeden Saison in den Wind geweint werden. Diese Opera Instabile hat nur ein kurzes Textbuch: die wind- und wettergefleckten Schilder, die mir auf meiner Wanderung ins Auge fallen: „Vendesi“, „Afittasi“: Zu verkaufen. Zu vermieten. Menetekel und sich mehrende Beweise für mangelnden Geschäftssinn. Mangelnde Kunden. Eine in Wahrheit moribunde, gottverlassene Region.
Dagegen als unvermeidbare Bestätigung dieses Ungleichgewichtes platsch! auf die nun nicht mehr grüne Wiese oder an den abschüssigen Hang des abgeholzten Olivenhaines geklotzt, die jüngsten Zeugen und ganzjährig belebten Denkmäler für das echte Big Business. Neue, international finanzierte Ferien-Anlagen, diesmal nicht in den Himmel, sondern metastatisch in die Breite gebaut. In der Farbe der weißen Industrie gestrichen. Weiß wie die Lilien, die wild um die verlassenen Häuschen unten am Strand wuchern. Ich fliehe zurück in mein sicheres Pizzo.
Es ist früher Sommer. In den Bäumen hängen gelbe und rosa Puderquasten und verströmen ungekannte Düfte. Die Hunde liegen faul auf dem Pflaster und wärmen ihren Bauch auf dem Granit. Und die Katzen haben sich auf den Motorhauben eingerollt. Die Brise vom Meer mischt sich mit den Düften junger Erbsen, Minze und Basilikum.
Momentaufnahmen, die mich auffahren lassen aus meiner Lektüre: Knatternd biegt ein stinkender grüner Dreiradkarren Marke „Piaggio“ auf die Piazza – ein fliegender Händler mit Kartoffeln, Sellerie, Salat, Zwiebeln. Und mit Bohnen, jenen herrlichen Faglioli, den weißen Bohnenkernen im knackig-grünen Futteral, die man roh mit gewürfeltem Grana Padano aus der hohlen Hand in den Mund wirft.
Ein wenig an griechische Inseldörfer erinnert mich der steil ansteigende Ortsteil hinter der Post: Hier liegt die Schattenwelt der mäandrierenden Treppen und Treppchen, mit kleinen Laubengängen und Durchbrüchen. Mit Blumentöpfen und Pflanzen auf fast allen Vorsprüngen und Stufen. Und der obligat wehenden Wäsche. Die Häuser sind gerade mal einstöckig, damit die Statik dieser Gegenseitigkeit erhalten bleibt. Ein nur scheinbar kubisches Chaos.
Sanfte Luft strömt in mein Schlafzimmerfenster, vermischt mit einem Hauch Zagara, der Orangenblüte. Schon am Nachmittag, als es Zeit war für ein entspannendes Verdauungs-Nickerchen („pennichella“), als der ganze Ort wie in Agonie lag, habe ich den Schlaf gesucht. Es ist die Zeit, wo die einzigen Geräusche das träumende Murmeln der kleinen Kinder im Schlaf hinter den geschlossenen hölzernen Fensterläden sind und das gelegentliche Quietschen der Bettfedern. Wenn die gelbschwarzen Salamander fast unsichtbar den gelbschwarzen Sandstein der Mauern hochhuschen in kühle Ritzen, die Katzen sich unter die Autos verzogen haben.
Da wollte auch ich schlafen. Vergebens. Denn die Hähne vor meinem Fenster krähen wie verstört. Es sind fünf Prachtexemplare. Und sie müssen sich sieben Hühner teilen – verfolgen sie über das Dach des Hühnerstalles bis in die Zweige des ausladenden Zitronenbaumes. Jetzt, wo die Früchte reif sind, hängen sie schwer herab wie die Brüste einer ebenso sauren, alten Donna. Sie nähern sich der Erde, berühren sie aber nicht.
Die Hühner nutzen die gebogenen Zweige als Aufstiegshilfe auf ihrer Flucht vor den dauergeilen Hähnen. Vergebens. Sie flüchten – schon im Griff des Hahnes – zurück auf das Schindeldach des gleich hohen Stalles. Und der Hahn ist drauf. Und kräht seinen Erfolg heraus. An Schlaf ist nicht zu denken.
Und die Hühner lernen auch nichts. Schon wieder sitzt eines im Zitronenbaum.