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Archiv-Artikel

Die grüne Idylle im Zentrum

taz-Serie „Rund um den Alex“ (Teil 4): In der Schillingstraße gibt es zwar keine szenigen Läden, aber die Plattenbauten zwischen Alexanderplatz und Strausberger Platz sind heiß begehrt. Angesichts dieser Erfolgsgeschichte hat der Senat sogar seine Pläne zur Verdichtung des Quartiers aufgegeben

VON UWE RADA

Von städtebaulichem „Nachholbedarf“ wollen die beiden Senioren nichts wissen. „Hier ist alles in Ordnung“, sagt einer von ihnen, „höchstens ein paar Parkbänke mehr könnten sie noch hinstellen.“ Sein Nachbar nickt. „Wenn ich gefragt werde, wo ich wohne“, sagt er, „schütteln alle den Kopf. Alexanderplatz? Da kann man doch nicht wohnen! Kann man aber“, lacht er, „hier in der Schillingstraße bekommt man vom Alex nichts mit. Richtig grün und idyllisch ist es hier.“

Die Schillingstraße ist die Nord-Süd-Achse durch das Wohngebiet „Karl-Marx-Allee, zweiter Bauabschnitt“. Vom Alexanderplatz bis zum Strausberger Platz ist das Quartier Anfang der Sechzigerjahre entstanden, als bewusster Kontrast zum Zuckerbäckerpomp des ersten Bauabschnitts. „Kosmopolitisch“, schimpften damals die Vertreter des stalinistischen Städtebaus. „DDR-Architektur“, meckern heute die Protagonisten des postmodernen Städtebaus. Deshalb sollte das Quartier nachverdichtet werden, entlang der Straßenfluchten aus der Vorkriegszeit. Dichte schafft schließlich Identität, lautet das Credo von Senatsbaudirektor Hans Stimmann (SPD).

Doch nicht nur die beiden Rentner in der Schillingstraße wissen, dass das Unsinn ist. Auch zahlreiche Jüngere haben die sanierten Plattenbauten zwischen Jannowitzbrücke und Karl-Marx-Allee inzwischen schätzen gelernt. Von Schrumpfung, wie in anderen Plattenbauquartieren Ostberlins und in Ostdeutschland, kann jedenfalls keine Rede sein. „Vermietungsprobleme kennen wir hier nicht“, sagt Steffi Pianka von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM). „Auch die Fluktuation ist gering. Das Gebiet wird sogar immer jünger. Sobald ein älterer Bewohner stirbt, zieht sofort eine junge Familie nach. Das Gebiet ist richtig begehrt.“

Das sieht man inzwischen auch am Äußeren. Im Café Moskau hat nicht nur Mittes grüne Baustadträtin Dorothee Dubrau unlängst ihren 50sten Geburtstag gefeiert. Auch die Clubszene feiert dort wieder ihre Partys. Ein möglicher Abriss ist jedenfalls vom Tisch.

Gegenüber dem Café Moskau ist mit dem „Camp4“ einer der größten Globetrotterläden in einen der Pavillons gezogen, mit denen der Architekt Josef Kaiser die „Karl-Marx-Allee zwei“ zum Boulevard der Flaneure machen wollte, das mondäne Kino International inklusive.

Nur eine ausgewiesene Kneipenszene gibt es rund um die Schillingstraße noch nicht. Nicht nur die Senioren wollen im Wohngebiet ihre Ruhe, sondern auch die jungen Szenebewohner. Kein Wunder: Bis zum Hackeschen Markt ist es ein Katzensprung.

Was dem Ruhebedürfnis der Karl-Marx-Allee-Städter zuträglich ist, ist aber zugleich das Problem der Schillingstraße. Eine Apotheke, ein Klamottendiscounter, zwei Lebensmittelgeschäfte, ein Bäcker, das war’s. Und mehr wird es auch nicht werden. Der Flachbau, in dem sich bis vor kurzem noch eine chemische Reinigung befand, wird abgerissen. „Noch mehr Grün“, sagt einer der Senioren auf der Parkbank, „uns soll’s recht sein.“

Nicht ganz so recht ist das Baustadträtin Dubrau. Zumal die Schillingstraße mit der neuen Shopping-Mall „Alexa“ an der Alexanderstraße noch mehr Kunden verlieren wird. „Das wird ein richtiges Problem“, meint Dubrau. Sonst aber kann die Baustadträtin die weitere Zukunft der Karl-Marx-Allee als Erfolg verbuchen. „Die Verdichtung“, sagt sie, „ist inzwischen vom Tisch.“

Das bestätigt auch Stimmanns Abteilungsleiter Hilmar von Lojewski. „Bei den Planungen am Alexanderplatz hat die Karl-Marx-Allee keine oberste Priorität. Wir konzentrieren uns ganz auf den Molkenmarkt und den Spittelmarkt.“ Ob die Rechnung „Identität durch Verdichtung“ aufgeht, wird sich also andernorts erweisen müssen. In der Karl-Marx-Allee hätte es ohnehin bedeutet: Verdichtung statt Identität. Die Idylle mitten in der Stadt hat gewonnen.