: Jesus ist dein bester Freund
Junkies, Punks und andere Christen: Die „Jesus Freaks“ verkünden einfache Botschaften, und sie haben damit Erfolg. Die Amtskirchen betrachten das Treiben mit gemischten Gefühlen. Doch wo Gebete erhört werden und Wunder geschehen, sind Zweifel so gut wie ausgeschlossen. Eine Reportage
von Birgit Borsutzky
Sonntagnachmittag, ein Hinterhaus in Hamburg. Rechts ein Bahndamm, links die Reste eines Drahtzauns, die Haustür steht offen. Dumpfe Gitarrenklänge dringen aus dem ersten Stock ins Treppenhaus. Hinter einer Eisentür strahlen rote Scheinwerfer auf eine Diskokugel in der Mitte des Raums, in dem Frauen und Männer auf einem Perserteppich vor der Bühne ihre Beine ausstrecken. Die Musik ist laut und schnell. Thorsten Schmidt sitzt am Bistrotisch vor der Bar, seine Hände sind gefaltet, er bewegt sich kaum. Er schaut zur Bühne. „Oh Jesus, I need you“, singt der Mann mit der E-Gitarre ins Mikrofon. Der Gottesdienst hat begonnen.
„Jesus ist unser bester Freund“, sagt Thorsten. Der 22-Jährige, der jeden Sonntag zum Gottesdienst der Jesus Freaks kommt, spricht mit ruhiger Stimme. Er lächelt die meiste Zeit und sieht in seiner Trainingsjacke und den Stoffturnschuhen aus wie viele junge Männer in seinem Alter. An der Baseballmütze stecken Buttons seiner Lieblingsbands. Punkmusik zu hören und sein Leben in die Hände von Jesus zu legen ist für ihn kein Widerspruch. Nicht die Religion, die persönliche Beziehung jedes einzelnen zu Jesus steht bei den Freaks im Vordergrund, erklärt Thorsten.
Auf der Bühne blättert der Mann mit der E-Gitarre in einer Bibel, die als Taschenbuch auf einer silberfarbenen Tonne vor ihm liegt. Der 30-Jährige, der seinen Lebensunterhalt bei einer Versicherung verdient, predigt heute. Er liest den ersten Vers und sagt, was er darüber denkt. Im Glauben stark zu werden und denen zu helfen, die noch schwach sind, ist die Aussage. Dann wieder Musik. „Make me strong, make me honest, in this world make me wise.“ Ein Mann mit Zopf sitzt im Schneidersitz auf dem Teppich. Seine Unterarme liegen auf den Knien, die Handflächen zeigen zur Decke. Er hält die Augen geschlossen, während sich seine Lippen bewegen. „Hier kann jeder mit Gott reden wie er will“, sagt Thorsten.
Mehr als 30 Besucher haben sich zum Singen und Beten in dem Raum versammelt, in dem an anderen Tagen Bands proben. Mal lacht einer dazwischen, ein anderer niest laut. „In konventionellen Gottesdiensten habe ich nie den richtigen Zugang zu Jesus gefunden“, sagt Thorsten. Während hinter den Fenstern die S-Bahnen vorbeifahren, sitzen die Jesus Freaks auf Sofas und in Sesseln wie in einem Wohnzimmer – wie vor 14 Jahren, als sie ihre ersten „Jesus-Abhäng-Abende“ in einer Hamburger Wohnung feierten.
Damals haben sich die alternativen Gottesdienste in der Szene schnell herumgesprochen. Menschen von der Straße kamen, Punks und Drogenabhängige. Die Bekehrten haben andere bekehrt. „Ganz natürlich haben sich so Bereiche wie Diakonie, Drogen- und Frauenarbeit entwickelt, die heute von einzelnen Freaks geleitet und koordiniert werden“, erinnert sich Eddie Verdieck. Der 36-Jährige ist einer der drei „Ältesten“ der Gemeinde, so nennen sie ihre Pastoren. Theologie hat Eddie nicht studiert. Zum Ältesten berufen werden könne jeder, der schon „lange mit Christus lebt“. Mehr als 100 Mitglieder zählt die Gemeinde in Hamburg, die sich allein durch Spenden finanziert. Eddie bekommt als Pastor 200 Euro im Monat von der Gemeinde, der Dachverband Jesus Freaks International unterstützt die Drogenarbeit mit weiteren 200 Euro.
Mehr als 80 Jesus-Freak-Gruppen gibt es heute in Deutschland, fünf in der Schweiz, drei in Österreich. Auch in den Niederlanden und in Tschechien formiert sich die alternative Jesus-Bewegung. Die Freaks vollziehen Hochzeiten, halten Beerdigungen ab und taufen auch selbst. Probleme mit der Landeskirche in Hamburg haben sie bislang nicht bekommen. „Wir unterscheiden uns nur im Stil. Der Gott ist derselbe“, sagt Thorsten. Manche Kirchenvertreter sind skeptisch. Wie Heiko Naß, Pastor und Referent der Kirchenleitung der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche. „Wer wie die Jesus Freaks seine Identität in der Abgrenzung gegenüber allem Überkommenen in der Kirche findet, sollte daran denken, dass diese Ablehnung nur Sinn macht, wenn man die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen nicht in Frage stellt“, meint er. Dass sich die Jesus Freaks nicht in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Hamburg engagieren, bedauert er.
„Seid zu jeder Zeit fröhlich“, heißt es im nächsten Vers, und auch Thorsten findet, dass die persönliche Stimmung eine Entscheidungssache ist. „Gott lässt uns die Wahl, uns für das zu entscheiden, was gut für uns ist, oder für das, was uns schadet.“ Seine Entscheidung, bei den Jesus Freaks zu bleiben, sagt er, war gut. Vor einem halben Jahr hat er sich um eine Ausbildung zum Mediengestalter beworben, er war neu bei den Freaks. „Ich habe zu Gott gesagt, okay, wenn ich den Platz bekomme, ist das ein Zeichen. Dann bleibe ich bei Christus und zwar richtig.“ Thorsten hat die Stelle bekommen. Er geht jetzt auch zu den wöchentlichen Gesprächskreisen der Jesus Freaks. Thorsten kommt aus christlichem Elternhaus. „Ich habe mich nie völlig von Jesus entfernt, aber bei den Freaks bin ich ihm noch näher.“ Weil er sich hier geborgen fühlt, sagt er. Weil er hier noch wahre Wunder erlebt.
Wie das Wunder von dem Mann, der todkrank war, bevor er zu den Jesus Freaks kam und sie für ihn gebetet haben. Jetzt ist er gesund. Thorsten selbst hat so ein Wunder mit Jesus noch nicht erlebt. Anders als Eddie. „Als ich das erste Mal hierher kam, war ich kriminell und stand völlig unter Drogen“, sagt er. Seine Arme sind tätowiert, neben einem durchgestrichenen Kreuz – „früher war ich Satanist“ – steht in großen Buchstaben „Jesus“. Heute gestaltet Eddie nicht nur die Gottesdienste bei den Freaks, er ist auch Suchtberater für Kinder und Jugendliche. „Ich habe Jesus gebeten, mich von den Drogen zu befreien, und er hat mich erhört.“
Die Luft im Raum riecht sauber, keiner der Freaks raucht bei den Gottesdiensten. Am Tresen gibt es Kaffee und Wasser für alle, keinen Alkohol. Dass Jesus vor allem für die Menschen da war, die aus der Gesellschaft verstoßen waren, glauben die Freaks. Sie wollen so leben, wie Jesus es vorgemacht hat. „Zu uns kann jeder kommen, ganz egal, welchen sozialen Background er hat“, sagt Thorsten. Manchmal kommen Besucher, die betrunken sind. Manchmal kommen Junkies. Nur wer Randale macht, muss gehen.
Seit dem ersten Lied ist eine Stunde vergangen, der Prediger liest den letzten Vers. Dass sie auf den heiligen Geist hören sollen, damit er in ihnen wirken kann, lernen die Freaks zum Abschluss. Eddie geht auf die Bühne und bittet um eine Spende für die Gemeinde. Zwei leere Milchflaschen werden weitergereicht. „Gebt das, was euch die Jesus Freaks wert sind“, sagt Eddie. Dann bittet er um ein gemeinsames Gebet. Während die Freaks feiern, liegt die Frau eines Gemeindemitglieds im Krankenhaus und bekommt ihr Kind. „Gott, wir bitten dich, dass du ihnen die Hand hältst und aufpasst, dass es keine Komplikationen gibt, und dass wir gleich eine E-Mail bekommen, dass alles in Ordnung ist.“
Der Gottesdienst ist aus, und während sich die Freaks umarmen und in kleinen Gruppen angeregt unterhalten, geht ein Mann auf die Bühne, von den anderen unbemerkt, bis er laut um Ruhe bittet. „Wir haben eben die Nachricht bekommen, das Kind ist da, es ist ein Mädchen und allen geht es gut.“ Die Freaks jubeln, einige klatschen. Thorsten lächelt etwas mehr als vorher, er lehnt sich zurück und streckt Kopf und Arme nach hinten über die Lehne des Stuhls, den er während des Gottesdienstes nicht ein Mal verlassen hat. „Genau das ist Jesus“, sagt er, „der Anfang und das Ende.“ Auf seinem T-Shirt steht der große Buchstabe A in einem Omega. Es ist das Zeichen der Jesus Freaks. Es sieht aus, wie das Anarcho-A, das manchmal an Häuserwänden als Graffiti zu sehen ist.