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Archiv-Artikel

Neue deutsche Einheit

Zukunft haben nur soziale Sicherungen, die am Bürgerstatus anknüpfen. Die linken Parteien müssen zusammenarbeiten, um den Lohnarbeitssozialstaat zu überwinden

Die Zusammenarbeit mit der Linkspartei ist dann kein Problem, wenn man weiß, was man selbst will

Vermutlich versteht man Bedeutung und Funktion der neu-alten „Linkspartei“ nur, wenn man in ihr einen zweiten, politisch-kulturellen Anlauf zur deutschen Einheit sieht. „Ich habe unterschätzt, wie tief die deutsche Teilung war“, blickte Helmut Kohl in Guido Knopps TV-Dokumentation „Der Patriot“ selbstkritisch auf das neben der europäischen Einigung wichtigste Ereignis seines Lebens zurück. Er meinte damit nicht allein die ökonomische Kluft, auch wenn sich diese in den vergangenen 15 Jahren als ein gewaltiger Ballast für die gesamtdeutsche Prosperität erweisen sollte.

Damals, zur Bundestagswahl am 2. Dezember 1990, war Oskar Lafontaine Kohls Konkurrent um die Kanzlerschaft. Kohl siegte, die SPD sank auf 33,5 Prozent, und die Grünen erreichten den Einzug in den Bundestag nur mit ihren ostdeutschen Abgeordneten. Lafontaine warnte vor „nationaler Besoffenheit“ und wendete sich aufgrund der finanziellen Folgen gegen eine gemeinsame Staatsbürgerschaft der Deutschen in Ost und West. Der schon damals prominente Grüne Joseph Fischer redete noch 1988 von einem notwendigen „Wiedervereinigungsverzicht“. Die deutsche Einheit begann emphatisch und holprig.

Die Diskrepanz zwischen rot-grünem und konservativ-liberalem Lager in deutschen Einheitsdingen blieb erheblich. Einig sind sich beide Lager in einer gönnerhaften, patriarchalen Geste von West nach Ost. Sofern sie patriotisch aufgeladen blieb, wie bei Kohl und Genscher, war sie jedenfalls für diejenigen im Osten aushaltbar, die regressiv-infantile Strukturen bruchlos aus der DDR übernommen hatten.

Bar des nationalen Pathos, wie bei Schröder und Fischer, kommt das Gönnerhafte heute nur noch als Entwertung an: Der Osten gilt als unproduktiv, aber gierig, als nostalgisch und verträumt. Dagegen hielt sich die PDS und wurde im Osten zu einer regionalen Volkspartei, zu einem Identitätsprojekt, das auf die „guten Seiten“ der DDR, auf Gleichheit und Solidarität verweist. Hartz IV wurde in dieser Ost-West-Beziehungsdauerkrise zu einem Fanal. Ohne Hartz IV und Agenda 2010 keine Wahlalternative WASG im Westen, ohne WASG keine Linkspartei und ohne Linkspartei kein Lafontaine-Revival.

Die Abgrenzungen der grünen Elite von der Linkspartei sind anspruchslos. Sie kaprizieren sich auf Nebenplätze wie Lafontaines „Fremdarbeiter“-Äußerung. Doch Lafontaine greift berechtigte Ängste der Bevölkerung auf, die von Eliten wegbuchstabiert werden – und selbst ihren Nutzen aus illegalen Putzhilfen und Gärtnern ziehen. Wenn die Grünen im Bundestagswahlprogramm kritisieren: „Auf die zentrale Frage, wie unter den Bedingungen der Globalisierung neue Arbeitsplätze geschaffen werden können“, hätte die Linkspartei keine Antwort, dann stellt sich doch die Frage, ob die Grünen darauf eine haben – vielleicht ist das sogar die falsch gestellte Frage.

Der Blick auf Arbeitsplätze, mit dem die CDU nun die Wahlen gewinnen will („Sozial ist, was Arbeit schafft“), ist systematisch eng geführt. Es geht sozialpolitisch um Produktivität und deren Ertragsteilung, aber nicht um Arbeitsplätze – oder nur dann, wenn das sozialpolitische System noch immer auf dem Niveau des späten 19. Jahrhunderts verharrt.

Der Bismarck’sche Lohnarbeitssozialstaat ist überlebt. Zukunftsbezogen sind soziale Sicherungen, die am Bürgerstatus anknüpfen. Die PDS, das Zentrum der Linkspartei, entwickelte beispielsweise das Konzept einer „solidarischen Bürgerversicherung“.

Doch vieles ist undurchdacht. Fehlerhaft ist das Beharren auf einer „paritätischen“ Finanzierung und damit merkwürdigerweise auch auf einer Beibehaltung der 50-prozentigen Entscheidungskompetenz der Arbeitgeberseite in den Gremien der Bürgerversicherung – obwohl zu Recht festgestellt wird, dass diese sich schon heute nur mit 38 Prozent an den Gesundheitskosten beteiligen. Dieser Anteil würde bei der Einbeziehung von Beamten und Selbstständigen sowie der Ausweitung auf Vermögenseinkommen noch weiter sinken. Eine Parität lässt sich damit nicht mehr begründen.

Der zweite Fehler ist die Beschränkung der Idee der „Bürgerversicherung“ auf die gesetzliche Krankenversicherung – ähnlich reduziert, wie dies auch bei SPD und Grünen der Fall ist. Merkwürdigerweise beschränkt sich das Konzept einer „solidarischen Rentenreform“ auf eine „Erwerbstätigenversicherung“. Warum wird hier nicht auch eine „Bürgerversicherung“ favorisiert, wie sie in den Niederlanden und der Schweiz existiert?

Wenn nämlich, wie es im PDS-Konzept heißt, die Beitragsbemessungsgrenze „allmählich an- und längerfristig ganz aufgehoben werden“ soll, „ähnlich wie bei unserem Vorschlag für eine solidarische Bürgerversicherung im Gesundheitswesen“, dann ist der Begriff Erwerbstätigenversicherung völlig abwegig. Faktisch würde der Sozialbeitrag nämlich zu einer Sozialsteuer, die jeden verpflichtet (und berechtigt), unabhängig davon, ob er oder sie erwerbstätig ist oder nicht. Lafontaine ist klüger. In „Politik für alle“ (2005) fordert er eine Rentenreform nach Schweizer Vorbild.

Programmatisch sollten sich die Grünen auf eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei einstellen und antikommunistischen Exorzismus nicht mitmachen. Diese Zusammenarbeit ist dann kein Problem, wenn man weiß, was man selbst will. Die SPD, die seit ihrem Godesberger Programm von 1959 für den „demokratischen Sozialismus“ eintritt, einen expliziten Gegenentwurf zum marxistisch-leninistischen Bürokratiesozialismus, weiß das eben nicht wirklich.

Die Abgrenzungender grünen Eliten von der Linkspartei sind ausgesprochenanspruchslos

Nur so ist zu verstehen, wenn Sigmar Gabriel mit Sätzen reüssiert wie: „Wer die Linke spaltet, ist ein nützlicher Idiot der Rechten.“ Lafontaine und Gysi gelten ihm als „Illusionisten“ und Gerhard Schröder als „Hoffnungsträger“. Das ist nichts als pure Polemik aus Mangel an Argumenten. Was die Linkspartei will, ist ein sorgender Wohlfahrtsstaat, sozusagen ein „Best of DDR und Norbert Blüm“.

Das neue Parteiprojekt integriert die Reste der westdeutschen Wohlfahrtsstaatsverteidiger mit ihren Brüdern und Schwestern im Osten. Das kann funktionieren, wenn man den Wohlfahrtsstaat als politisches und nicht als ökonomisches Projekt (mit Enteignung und Staatswirtschaft) versteht. Skandinavien macht das vor, und auch im Westen gibt es allenthalben demokratisch-sozialistische Inseln, bisweilen sogar sehr erfolgreiche (von den gemeinwirtschaftlichen deutschen Sparkassen bis zum britischen National Health Service).

Für die SPD, deren „Visionen“ noch immer darauf gebucht sind, doch deren Eliten das „Sozialstaat light“-Projekt einer allgemeinen Wettbewerbsökonomie planen, ist die Linkspartei tatsächlich eine Herausforderung. Gespaltet wird nicht „die“ Linke, sondern eine linke Partei, die SPD. Nehmen wir es sportlich: Der politische Wettbewerb wird härter, die deutsche Einheit auch. MICHAEL OPIELKA