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Archiv-Artikel

Der Schnee ist schwarz

Ein Meinungsvirus geht um. Ein mächtiges Monster, das Fakten, Tatsachen und Sachverstand zerkaut und sie gierig verschluckt. Eine Polemik

Von Rainer Wochele (Text) und Martin Storz (Fotos)

Einer sagt: „Der Schnee ist weiß.“

Sagt der andere, sein Gegenüber: „Da bin ich aber ganz anderer Meinung.“

Sagt der Erste, er ist kleiner Angestellter im Stadtreinigungsamt: „Aber schauen Sie nur, wie schön weiß der Schnee auf diesem Dach ist.“

Sagt der andere, er ist Dachdeckermeister und Vorsitzender der Dachdeckerinnung, hat mit der Dachdeckerei viel Geld gemacht, sitzt als Abgeordneter im Parlament: „Das sehe ich ganz anders. Da bin ich völlig anderer Meinung als Sie. Der Schnee auf diesem Dach ist grau. Eigentlich ist er ziemlich schwarz.“

„Nehmen Sie doch mal Ihre Brille ab, damit Sie die Tatsachen sehen.“

„Wollen Sie sagen, ich lüge?“

„Wer sagt das?“

„Sie haben mir das unterstellt, nur weil ich hier meine Meinung vertrete. Seine Meinung wird man doch noch sagen dürfen. Zumal, wenn sie durch eine Mehrheit untermauert ist. Der Schnee ist schwarz, mein Herr.“

Da wendet sich der Mann vom Stadtreinigungsamt ab, schüttelt den Kopf, geht seiner Wege und beschließt, künftig nichts mehr zu sagen. Weder über Schnee noch über anderes.

Es geht ein Virus um im Land. Ein ansteckender, gefährlicher, gefräßiger. Es ist der Meinungsvirus. Es ist der Virus, in privatem Gespräch, aber noch mehr in öffentlicher Debatte, alles und jedes dem Diktat der Meinung, des Meinungshaften zu unterwerfen und erst gar nicht nach den Tatsachen, nach den Fakten zu fragen.

Sodass man manchmal meinen könnte, die Meinung fräße jedwede Faktizität, auch wenn diese durch physikalische Gesetze, durch wissenschaftliche Erkenntnis, durch Axiome gar und harte Zahlen belegt ist. Sodass man manchmal zu der Ansicht gelangen könnte, die Meinung sei ein gieriges Vieh, ein Monster, das sich von Fakten und Tatsachen der verschiedensten Art ernährt, diese zerkaut, mit dem Speichel des Gesinnungshaften durchtränkt und schließlich hinunterschluckt. Worauf diese Fakten, diese Tatsachen dann, umgewandelt als kotige sogenannte Standpunkte, Auffassungen, Anschauungen, Eindrücke, Meinungen eben, wieder ausgeschieden werden.

Dann wird oftmals auch noch ein wenig rhetorisches Parfüm darübergespritzt und alles, solche gedanklichen Ausscheidungshaufen, solche argumentativen Wortwürste, auf silbernem Tablett, welches nicht selten ziseliert ist mit den Schnörkeln der Macht, als das Eigentliche, das Durchschlagende der Phänomene präsentiert. Gleichsam und nach dem Motto: „Das verstehen eben wir darunter. Das ist unsere Ansicht. Das müssen Sie uns schon glauben. Da können Sie Gift drauf nehmen, dass das so ist. Und bitte sehr, jetzt können Sie sich ja Ihre eigene Meinung bilden.“

Ja, wer hätte die denn nicht?

Eine Meinung. Seine Meinung. Aber ob jemand auch Kenntnis hat, Sachverstand, ob ihm Fakten und Tatsachen zu Gebote stehen und ob er diese mithilfe von Wertmaßstäben auch einzuordnen weiß nach den Gesetzmäßigkeiten des in Rede stehenden Bereiches, das ist eine ganz andere Frage.

Die Gefräßigkeit des Meinungsbazillus konnte aufs Schönste beobachtet werden – ja, mein Gott, ja! – in der öffentlichen Debatte um das Vergrabungsprojekt Stuttgart 21. Pardon, es ist halt gigantomanisches Lehrbeispiel für vielerlei Gebresten und Infektionen in Politik und Gesellschaft. Da hatte einer der besten Ingenieure Deutschlands in seiner Eigenschaft als damaliger Leiter dieses riesigen Maulwurfsunternehmens in einem bahninternen Dossier 121 Risiken aufgelistet, die erhebliche Mehrkosten verursachen und den vorgesehenen Kostenrahmen platzen lassen könnten. Das Dossier hat, soweit dies aus zugänglichen Informationen herauszulesen war, die Sprache des Sachlichen und des Faktischen gesprochen. Auch ist bei den bahninternen Verfassern schwerlich eine Interessenlage denkbar, die diese Mängelliste unter das Diktat hinterlistiger Scheinargumente gestellt hätte. Somit dürfen wir hier denn doch davon ausgehen, es habe sich bei den in dem Dossier benannten 121 Risikopunkten um Fakten und nicht um Behauptungen gehandelt.

Schön, und was tat die Bahn? Nun ja, sie meinungte halt, will sagen, sie dementierte, schob alles ins Gesinnungsmäßige, in den Bereich von Ansichtssache und persönlichem Standpunkt. Sie erklärte, in den Dokumenten seien alle nur erdenklichen Risiken aufgelistet worden. Es sei völlig ausgeschlossen, dass sich die Risiken am Ende alle tatsächlich realisierten.

Na schön. Na großartig. So, als hätte sich das der beste deutsche Ingenieur nicht auch denken können.

Doch darauf kam's ja nicht an. Es kam lediglich darauf an, diese 121 Risikopunkte mit der Lauge einer Gegenmeinung zu verätzen, mit der Meinungskrankheit zu infizieren. Und schwuppdiwupp, schon erschienen jene 121 Tatsachen nicht mehr gar so tatsachenhaft. Nicht mehr gar so unabweisbar. Der Meinungserreger hatte sie angefressen.

Da hat ein Ingenieur, ganz bestimmt ein Fachmann auf seinem Gebiet, für die zu grabenden Tunnels fürs große Wühlprojekt eine ganz bestimmte Wandstärke errechnet, die sich, so dürfen wir doch annehmen, auf ganz bestimmte physikalische, geologische, sicherheitsrelevante Tatsachen gestützt hat. Was sagte der oberste Bahnmann? Er sagte, und zerrte die Fakten damit herunter ins Beliebige, ins beliebig Veränderbare, ins Meinungsmäßige eben, man wolle hier doch keine Bunker bauen und könne die Tunnelwände auch dünner machen.

Der Meinungsvirus hatte sie angenagt, half, Beton und Geld zu sparen. Beispiele nur, mühelos vermehrbar, mühelos auch aufzeigbar bei anderen Themen und Sachverhalten des öffentlichen Gesprächs.

Woher rührt das?

Nun, die Infektion mit dem Meinungskrebs ist, jene, die ihn züchten, wissen dies, ein probates, ein wohlfeiles Mittel, um machtvoll eigene Interessen durchzusetzen, sei es, dass diese offen zutage liegen, sei es, dass sie verborgen sind. Es ist ja nun wahrlich nicht so, dass Meinungen im öffentlichen Raum frei flottieren zu allfälliger Bedienung für jedermann. Nein, Meinungen werden in vielen Fällen ganz gezielt gemacht, werden zugeschnitten auf Interessenlage und Eigennutz. Und diejenigen, die die Meinungskeule, die man auch eine argumentative Panzerfaust im öffentliche Machtkampf nennen könnte, raffiniert, auch skrupellos einsetzen, für derlei Schlagabtausch auch sogenannte Sprecher anheuern, wissen, dass sie nicht zuletzt auch durch demokratische Gepflogenheiten geschützt sind. Denn wer möchte und wer dürfte in einer Demokratie schon etwas dagegen haben, dass Meinungen ausgetauscht werden? Wer denn, bitte?

Also lässt sich mithilfe der Durchschlagskraft des Meinungsknüppels wunderbar Macht ausüben, Macht praktizieren. So gesehen, ist die Meinung der dunkle, verspiegelte Helm, in dem die Macht ihr wahres Gesicht verbergen kann.

Ein Nährboden, eine fette Nährlösung, auf der der Meinungsbazillus groß geworden ist und weiterhin prächtig gedeiht, sind, so scheint es, die Talkshows im Flimmermedium, auch dort, wo dieses öffentlich-rechtlich verfasst ist. Diese Gesprächsrunden werden besetzt entweder nach dem Parteienproporz, der ohnehin in den Fernsehanstalten blüht, oder nach dem eingängigen Schema von Pro und Kontra, weil viele Leute in diesen Anstalten oftmals glauben, die Sender dürften sich nicht auf die Suche nach so etwas wie Fakten und Tatsachen machen.

Daher sind solche Talkshows in den meisten Fällen erkenntnistheoretisch auch so öde und unergiebig. Einige wenige Fernsehleute haben sich diesem ewigen Sowohl-als-auch, diesem Besinnungsaufsatzhaften entzogen und führen in ihren Sendungen immer wieder auf faszinierende Weise vor, wie weit eine Handvoll kluger Köpfe, Köpfe, in denen Wissen steckt, auch Expertensachverstand, durchaus Licht und Erkenntnis in das verzwirnte und dunkle Geflecht unserer Lebenszusammenhänge zu bringen vermögen. Bei solchen Gelegenheiten wird dem Meinungsvirus dann sehr schnell der Garaus gemacht.

Diesen hat aber jüngst sogar auch noch die große Wissens- und Faktensortiermaschine, Google nämlich, üppig gefüttert. Google hat verkündet, seine Suchergebnisse seien nur subjektive Meinungen und könnten sich jederzeit ändern. Na so was ...!? Und was heißt das denn ...?

Heißt das zum Beispiel dies?

Man will, sagen wir, etwas über den Mond wissen, etwas darüber, wie dick der Mond ist, welchen Äquatordurchmesser er hat. Man gibt also entsprechende Stichworte ein, und dann erscheint als Äquatordurchmesser die seit Langem bekannte Zahl von 3476 Kilometern. Diese Zahl wird nun aber von Google als schlichte Meinung deklariert, die sich jederzeit ändern könne? Grandioser Triumph der Meinungsmacht. Google kann den Monddurchmesser ändern. Na so was!

Man erfragt bei Google die tiefste Stelle der Ozeane. Bekommt eine Antwort, eine Angabe in Metern. Doch Vorsicht, reine Meinungssache. Was schert Google die Tiefe der Meere? Wer war Hitler? Der und der und der. Aber das ist Googles persönliche Ansicht, kann sich jederzeit ändern. Wer war Einstein? Der und der und der: subjektiv, kann sich ändern.

Wohin kommen wir da?

In die arrogante Diktatur des Meinungshaften?

Oder sind wir auf manchen Feldern bereits dort angelangt?

Natürlich, wer wüsste es nicht, es gibt Bereiche, in denen mit Fug und allem Recht die Meinungen, die Ansichten hart aufeinanderprallen und auch aufeinanderprallen müssen. In den Parlamenten. In den demokratisch verfassten Gremien. Wo dann der Meinungsausringkampf mündet in Abstimmungsergebnisse, in Abstimmungskompromisse. Und vielleicht ist es eine der wichtigsten Feststellungen, die der grüne Kretschmann auf dem Ministerpräsidentensessel getroffen hat, die, dass er nach der Volksabstimmung sinngemäß erklärt hat, Mehrheitsentscheidungen seien nicht immer Wahrheitsentscheidungen, sonst lebten wir ja in einer Meinungsdiktatur. Dass sich aber der gierige Meinungsvirus mehr und mehr ausbreitet, allmählich fast alle Lebensbereiche durchdringt, ja zerfrisst, das ist wirklich von Übel. Wie Viren in den meisten Fällen ganz und gar üble Burschen sind: das alles, bitte schön, ist zumindest meine Meinung.

Rainer Wochele lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Stuttgart. Er schreibt Theaterstücke und Romane. Jüngst erschien der Roman „Sand und Seide“, in dem eine reiche Managerin auf einen Hartzler trifft.