: Wer spricht heute noch vom guten Leben?
BAUEN ALS SINN An die Stelle der Suche nach Räumen für ein sinnerfülltes Leben ist das Bauen um jeden Preis getreten. Eine kleine Philippika über die ideelle Anspruchslosigkeit der zeitgenössischen Architektur
VON JÖRN KÖPPLER
Weniges erscheint so konstant in diesen instabilen Zeiten wie die Indifferenz des Großteils der Architekten gegenüber den Gründen und Folgen der gesellschaftlichen Großkrisen der Finanzwirtschaft und des Klimawechsels. Eine Indifferenz, die, in Projekte übersetzt, entweder sogenannte Signature Buildings vom Schlage des neuen Hauptgebäudes des chinesischen Staatsfernsehens CCTV in Peking von OMA/Rem Koolhaas zu erzeugen scheint oder aber eine große Masse stumm und bieder wirkender Hausmannskost, die mal nur technizistisch-abstrakt, mal neoklassizistisch auftritt.
Das Verbindende all dieser Strömungen der Gegenwartsarchitektur ließe sich beschreiben mit einer fast ausnahmslosen Anspruchslosigkeit des Gebauten in Bezug auf irgendeinen ideellen Gehalt, irgendeine Bedeutung, die über scheinintellektuelle Fragen von Konzeptualität oder von der heute in der Fachpresse so gern zitierten Performance des Gebauten hinausgeht. Eine Anspruchslosigkeit, deren ästhetischer Ausdruck in ein großes „Einverstandensein“ mit den Verhältnissen zu münden scheint. Was all jene verhöhnt, die unter „Leben“ mehr als rein ökonomische Funktionszusammenhänge verstehen.
Beschriebe man die Gründe und Folgen der Finanz- und Klimakrise als eine Krise der Ideale, für welche die Aufklärung als Projekt der Moderne einst einstand, so verwundert diese Anspruchslosigkeit in zweierlei Hinsicht: Eine Krise der Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kann einer Gegenwartsarchitektur, die sich doch vornehmlich als moderne versteht, nicht gleichgültig sein.
Genauso wenig kann es uns Architekten nicht gleich sein, dass mit der Demontage humanistischer Ideale natürlich zugleich auch der überzeitliche Wesenskern der Architektur bedroht ist: Nach Aristoteles also die baulich-poetische Reflexion dessen, „was sein kann“, und nicht allein die technische Abbildung dessen, „was ist“.
Doch der Architekturdiskurs sieht die Zeichen nicht. Und er nimmt auch nicht die Proteste gegen von der Finanzökonomie angetriebene Bauprojekte wie Stuttgart 21 oder einst die Überplanung des Gängeviertels in Hamburg ernst. Stattdessen scheint er gerade noch fähig zu sein, seine Überlegungen auf verfahrenstechnische Fragen, wie zum Beispiel die Erhöhung des Energieeinsparstandards von Gebäuden, zu konzentrieren – behält dabei implizit aber die Grundannahme bei, dass es schon seine Richtigkeit habe, wenn sich die Gesellschaftsordnung posthumanistisch entwickelt.
Was aber äußert sich in den jüngsten Protesten gegen städtebauliche Großprojekte, in vielleicht analoger Weise zu den Protesten der „Occupy Wall Street“-Bewegung? Doch vielleicht die Einsicht, dass dem größten Teil der Gegenwartsarchitektur die Vorstellung vom vornehmsten Kern der eigenen Disziplin längst ausgegangen ist: von der räumlichen Umhüllung des Ideals eines „guten“, im Sinne eines „sinnerfüllten“ Lebens.
Krise der Ideen
Vom „guten Leben“ sprechen heute viele Ethiker. Würde man aber heute in beliebigen Architekturfachzeitschriften nach diesem Sinnbegriff suchen, würde man feststellen, dass dieser oder mit ihm wesensverwandte Begriffe wie beispielsweise jener der Schönheit dort nicht mehr zu finden sind. Vielmehr häufen sich darin zahlreiche der Gegenwart angemessene Deformationen dieser Begriffe aus Perspektive des Geschäftsfeldes der „Wellness“.
Was keinen Zufall darstellt; besteht doch unter Architekten seit dem Ende der architektonischen Postmoderne in den frühen 1990er Jahren nahezu Einigkeit darin, dass nicht nur das Ideal eines guten Lebens, sondern ideelle Sinngehalte überhaupt im Bauen obsolet seien. In Abgrenzung von den Vätern der Postmoderne war und ist es unter den Architekten der vielfach so bezeichneten „Zweiten Moderne“ geradezu Common Sense, das Ende des unzeitgemäßen Baukünstlers und stattdessen die Morgenröte des intelligenten Systemwissenschaftlers zu propagieren.
Beispielhaft, quasi pars pro toto für diese Haltung stünde ein Entwurf des niederländischen Architekturbüros MVRDV von 1998: In ihrem Vorschlag für eine Verdichtung der spanischen Küstenstadt Benidorm setzten die Architekten allein noch die Verhöhnung aller ideellen Sinngehalte ins Werk: Sie transformierten das Christuskreuz in Büro- und Apartmenthochhauskomplexe. Den Architekten ist das Zeichen des Leides für das Ideal der Nächstenliebe gerade als Provokation gut genug, dass der Glaube an Werte und Ideale nur eine vermiet- und verkaufbare Ware darstellt.
2011 legte das MVRDV-Büro nach. Dass bei seinem Entwurf für ein Geschäftszentrum in Seoul mit der offenkundigen Ähnlichkeit der vorgeschlagenen Doppeltürme mit dem explodierenden World Trade Center Skandal- und Aufmerksamkeitsökonomie betrieben wird, spricht für sich selbst.
Bei alldem fühlt man sich an Adornos und Horkheimers Diktum erinnert, dass, wenn alle Werte entwertet sind, als wahrscheinlichste Maxime des Handelns die Selbsterhaltung übrig bleibt. Eine Maxime, die ebenso gut die Anspruchslosigkeit des Mainstreams der Gegenwartsarchitektur erklären würde: An die Stelle der Reflexion darüber, was ein gutes Leben sein könnte und nach welchen Räumen es riefe, ist der Gedanke des Bauens um jeden Preis getreten, egal welches Inhalts.
Was man gern vergisst über der nun 20 Jahre lang vorgetragenen Forderung, die Architektur mittels Aufgabe ihrer sinnreflektierenden Dimension in die ökonomische Architektur der Globalisierung einzugliedern: Zu haben ist diese Idee nur unter der haltlosen Prämisse der Halbierung der Ansprüche an das Selbstbild jedes Einzelnen. Es würde nämlich nichts anderes bedeuten, als dass der Teil unser Existenz, den wir das Geistige nennen, im Bauen der Gegenwart nicht mehr vorkommen soll. Jener Teil unserer Existenz also, der es trotz aller Abgeklärtheit nicht lassen kann, nach den Bedürfnissen des Lebens zu fragen, die jenseits der bloß körperlichen liegen. Jener Anteil in uns, der sich unablässlich wundern kann über das Wunder, welches das eigene und das Leben anderer in dieser Welt darstellen; oder der, mit Leibniz gesagt, erstaunt angesichts der Frage, warum überhaupt etwas ist „und nicht nichts“. Dies alles, die Suche und Reflexion also über den Sinn selbst, über mögliche Erkenntnis, notwendige Moralität und hoffenden Glauben, dies alles soll in der Disziplin, die dem Leben der Menschen Räume entwirft, keinen Raum finden?
Das erscheint, je nach Perspektive, als entweder nur naive oder eben als böswillige Auslegung des Kerns der Disziplin der Architektur.
Dagegen ließe sich die ganz andere Definition Mies van der Rohes stellen, die da lautet: „Baukunst wurzelt in ihren einfachsten Gestaltungen ganz im Zweckhaften. Reicht aber hinaus über alle Wertstufen bis in den Bezirk geistigen Seins, in das Gebiet des Sinnhaften, der Sphäre der reinen Kunst. […] Durch nichts wird Ziel und Sinn unserer Arbeit mehr erschlossen als durch das tiefe Wort von St. Augustin: ‚Das Schöne ist der Glanz des Wahren!‘ “
Ein Anspruch, den Mies in seinem Spätwerk der Berliner Neuen Nationalgalerie auch umzusetzen wusste in seiner subtilen Aneignung der klassischen Mittel des Sinnausdrucks des architektonischen Werkes: vor allem in Form der räumlichen Reflexion des Moments der Schönheit der Natur als erfahrbaren Moment von Wahrheit.
Im 17. Jh. gab es die sogenannte „Querelle des Anciens et des Modernes“, den Streit der Alten mit den Modernen in der französischen Architekturdiskussion. Anlass dieser „Querelle“ war der Umstand, dass die Jüngeren Architekten sich nicht mehr zufriedengeben wollten mit den scheinbar feststehenden Gesetzen des Bauens der Alten, die auf einem kirchlich-religiösen Weltbild gründeten. Dieser frühe Architekturstreit war das Signal zum Aufbruch in die architektonische Moderne.
Zeit zum Streit
Heute wäre wieder der Zeitpunkt für solch einen Streit gekommen. Einen Streit, der sich nicht darauf beschränken dürfte, die nur vordergründig wichtige Stilfrage beispielsweise eines Berliner Schlosswiederaufbaus zu erörtern. Es käme vielmehr darauf an, die Verankerung der Gegenwartsarchitektur in dem ebenfalls fast kirchlich zu nennenden Glauben an eine durchökonomisierte Gesellschaftsordnung infrage zu stellen. So würde vielleicht klar, dass die heute sich „modern“ nennenden Architekten eigentlich längst die „Anciens“, die Alten, geworden sind. Hören wir nicht mehr auf sie. Widmen wir uns lieber der Frage der Aktualisierung der Idee des Modernen im Bauen: Wie macht die Architektur das Bild des wunderhaften, sinnfragenden Lebens wieder zum Mittelpunkt ihrer Grundrisse?
■ Jörn Köppler, geboren 1970, führt mit seiner Frau Annette Köppler-Türk in Potsdam das Architekturbüro „Köppler Türk Architekten“. Dessen Forschungsschwerpunkt liegt in der Frage nach den Beziehungen zwischen der ästhetischen Naturerfahrung und einem Sinngehalt der Architektur der Moderne. Köppler ist zurzeit Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Zuletzt erschien von ihm 2010 der Band „Sinn und Krise moderner Architektur“