: Am Nullpunkt der Sprache
Kathrin Schmidt, 51, ist bilder- und kinderreich. Die Sprachbilder und die fünf Kinder waren ihr persönlicher Reichtum in der kargen DDR, private Verwirklichungen im restriktiven Staat neben dem ordentlichen Beruf als Psychologin. Drei Lyrikbände konnte sie in der DDR veröffentlichen. Als sie zur Prosa wechselte, waren die Grenzen des Systems erreicht, ein Exposé des Romans „Die Gunnar-Lennefsen-Expedition“, der sie 1998 im vereinten Deutschland bekannt machte, wurde vom Verlag Neues Leben abgelehnt: Die üppige, einhellig wegen ihrer Sinnlichkeit bestaunte, generationen- und epochenübergreifende, rein weibliche Familiengeschichte gipfelt im Überschreiten der DDR-Grenzen per Luftschiff.
Der barock-opulente, sinnlich-magische Umgang mit der Geschichte, die sich in komplexen Familiengeschichten spiegelt, kennzeichnet auch den Roman „Koenigs Kinder“ (2002), der am Ostberliner Stadtrand kurz nach der Wende angesiedelt ist. Man hat Schmidts Prosa mit dem Begriff „magischer Realismus“ zu fassen versucht; es ist zugleich viel Milieugenauigkeit darin. Und ihr Familienbild ist nie klassisch: Sei es, dass die Männer fehlen oder dass sexuelle Orientierungen und Identitäten schwanken und neue Konstellationen hervorbringen.
2002 dann der biografische Bruch: Ein erweitertes Gefäß platzt in Kathrin Schmidts Kopf, sie findet sich sprach- und erinnerungslos, zudem halbseitig gelähmt im Krankenhaus wieder. Der größte Teil des jetzt Buchpreis-prämierten Romans „Du stirbst nicht“ ist die autobiografische Darstellung dieses Nullpunkts und der langsamen Wiederaneignung des Verlorenen – wobei der Verlust sich auch als Gewinn herausstellt, Gewinn an Unmittelbarkeit jenseits aller versunkenen Pflichten und Verstrickungen. Eine solche Schilderung kann unmöglich barock sein. „Du stirbst nicht“ ist Schmidts kargstes und genauestes Buch. Und auch darin ist die Lyrikerin zu spüren, die Suchbewegungen der Versehrten in der unsicher gewordenen Sprache sind lyrisch. Über Assoziationen und Klänge tastet sie sich zurück zu den Bedeutungen der Wörter, die selbst für eine Weile lang schöne, fremde Gebilde am Nullpunkt sind. MAJA RETTIG