: Pilger haben eigene Farbenlehre
Ein Heer von Glückseligen zieht am ersten Tag des Katholikenevents durch die Kölner City. Damit keiner verloren geht, läuft in jeder Gruppe ein Nationalfahnenschwenker mit. Zum Beten sind nicht alle Pilger aufgelegt: So mancher Teenie bummelt lieber
aus Köln HENK RAIJER
Noch 0 Tage bis zum XX. Weltjugendtag verheißt die elektronische Anzeige am Domforum. Über ein Jahr lang hat sie die Kölner auf dem Laufenden gehalten, jedem Berufspendler in der Früh angezeigt, ab wann genau es mit der Ruhe in seiner Stadt vorbei sein wird. Jetzt, am ersten Tag des Katholentreffs am Rhein, ist Schaulaufen angesagt. Zehntausende Jugendliche ziehen in größeren oder kleineren Pulks über die Domplatte, Mädchen singen im oberen Oktavbereich seichte Liedchen, die Jungs grölen „Italia, Italia“ oder „Polonia, Polonia“. Der erste Eindruck: Alle laufen der Fahne nach.
Das Schwenken der jeweiligen Nationalfarben ist ein Brauchtum, das laut Jacques, einem 33-jährigen Pilger aus Strassbourg, inzwischen konstituierendes Element bei Weltjugendtagen ist. Er selbst hat gleich zwei Fahnen mitgebracht: die französische und die des Elsass, seiner Heimatregion. Jacques‘ WJT-Outfit ist das Pfadfinder-Kaki, er ist nach Paris, Rom und Toronto zum vierten Mal dabei. Der Grund? „Man spürt bei diesen Anlässen, dass man nicht allein ist.“ Auch in Köln hoffe er, Gleichgesinnte zu treffen, um über Spirituelles zu diskutieren. Für seine Freundin, die einen Tag später anreise, sei das Treffen dagegen neu, erzählt Jacques. Obwohl auch sie gläubige Katholikin sei und, wie er selbst, jeden Sonntag um 11 das Hochamt besuche.
Das ist für Tanja (16) und Katharina (17) aus Altötting „nicht so unser Ding“. Die beiden Mädels aus der Stadt im Herzen Bayerns haben ein überaus weltliches Anliegen. „Es macht Spaß, in der Gruppe zu verreisen, und ich war bis jetzt noch nie in Nürnberg“, erklärt die dunkelhaarige Katharina voller Begeisterung – mitten auf dem Platz am Fuß des Kölner Doms. Die beiden haben an diesem ersten Tag Ausgang, gucken sich ohne die Gruppe ein wenig in der Stadt um. „Ist eigentlich die Eröffnungsmesse heute Nachmittag im Stadion Pflicht?“ fragt Tanja einen jungen Italiener (mit Fahne) auf Englisch. „Keine Ahnung, aber komm doch einfach mit“, lädt er sie lächelnd ein.
Father Vaughn Winters aus Santa Maria in Kalifornien geht auf jeden Fall hin. Der Pfarrer aus der Kleinstadt nördlich von Santa Barbara war schon öfter in Europa. Der 56-Jährige will „seinen“ 80 Kids im Alter zwischen 12 und 17 Jahren in Köln vermitteln, dass sie Teil einer globalen Kirche sind. „Amerika ist isoliert und unterstützt Heranwachsende nicht in dem Bestreben, andere Sichtweisen kennen zu lernen“, beklagt Father Winters. Ob er das politisch meine? „Politisch, geographisch und religiös“, antwortet der Geistliche mit der dunklen Brille vor seinen wachen Augen. Er kramt aus seinem blauen WJT-Rucksack den Stadtplan hervor – Zeit, seine Schäfchen einzusammeln für die Wallfahrt zum Stadion.
Obwohl rund um Bahnhof und Dom also jede Menge los ist: Für Kölns Taxifahrer ist dieser erste Tag nicht der Brüller. Nicht nur, dass Jugendliche ohnehin nicht zur traditionellen Klientel gehören – sie verhindern auch noch den Ansatz eines Geschäfts. „Die Leute, die vom Bahnhof oder aus den Hotels am Dom kommen, finden erst gar nicht zum Taxistand, weil wir schlicht und einfach nicht zu sehen sind“, klagt ein Fahrer, der sich von gut vierzig Fahnen schwingenden Peruanern umringt sieht. Auch ein Optiker in der Komödienstraße unweit des Doms steht beschäftigungslos vor seinem Laden und wirft den sich feiernden jungen Katholiken auf dem Bürgersteig missmutige Blicke zu. Kaum Umsatz hat auch der Bettler, der am Domgäßchen seinen Stand aufgemacht hat. Trotz der Pilgerschar, die ohne Pause an ihm vorüberzieht.
Am Eingang des Domes stellen sich zwei Italiener (mit Fahne) in eine Gruppe hellblau berockter Nonnen aus Warschau (ohne Fahnen) und lassen sich von Freunden ablichten. Karol aus Brno taxiert beim Verlassen des Gotteshauses mit offensichtlichem Genuss den Hintern einer Brasilianerin vor ihm. Der 19-Jährige Student der Mathematik traut sich aber nicht recht, sie anzusprechen.
Weniger Hemmungen, Passanten auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen, hat Anke Reermann. Die 36-Jährige ist Mitarbeiterin der Aachener Hilfsorganisation Missio. Sie steht zusammen mit einem Freiwilligen auf dem Domplatz und fordert die vorbei flanierenden Jugendlichen auf, ihren Handabdruck auf gelben und grünen DIN-A-4-Bögen zu hinterlassen – als Ausdruck von Solidarität mit und Unterstützung für Aidswaisen in Afrika und Asien. „Die Veranstaltungen auf dem Weltjugendtag sind ja nicht sonderlich politisch“, meint Anke Reermann. „Unser Anliegen ist es, mit unserer Aktion ‚Tatorte des Glaubens‘ möglichst viele Jugendliche zu bewegen, Glauben mit Handeln gleichzusetzen und das Aktionsbündnis gegen Aids zu unterstützen. Zum Beispiel indem sie durch ihre Unterschrift helfen, den Druck auf die Chemiemultis zu erhöhen, damit diese die teuren Medikamente günstiger abgeben“, erklärt Reermann.
Medikamente sind für eine andere Pilgergruppe aus Deutschland grad nicht so das Thema. Fröhlich Fahne schwenkend ziehen die rund dreißig Jungs und Mädels mit dem obligatorischen blauen Rucksack in Richtung Neumarkt und singen lautstark von „eisgekühltem Bommerlunder“.