: Klaviergewitter vor schweren Jungs
Wenn ein weltberühmter Pianist und 200 Fans freiwillig in den Knast gehen, ist ein prickelndes Konzerterlebnis programmiert: In der Reihe „Klassiek op locatie“, die rund um Venlo gastiert, spielt Yingdi Sun Mozart und Liszt vor „gemischtem“ Publikum
aus Venlo HENK RAIJER
Draußen oder drinnen? Die bange Frage, die Nard Reijnders jede Woche aufs Neue vor dem Bühnenaufbau beschäftigt, kümmert hinter dem sechs Meter hohen Doppel-Drahtverhau von „De Rooyse Wissel“ keinen – zumindest keinen der Insassen. Die Entscheidung des Managers der Konzertreihe „Klassiek op locatie“ fällt an diesem Nachmittag wegen drohenden Gewitters gegen den Garten und für die Turnhalle der Resozialisierungsklinik im grenznahen Oostrum.
Die Leitung der Anstalt im Südosten Hollands überlässt nichts dem Zufall, die gut 200 Gäste, die heute gekommen sind, um den chinesischen Klaviervirtuosen Yingdi Sun zu hören, haben Handys und Taschen im Auto lassen müssen. In Fünfergruppen treten die Klassikfans mit ihrem Ausweis in der Hand durch eine Sicherheitsschleuse. Nach gründlicher Leibesvisitation werden sie von zwei Wachen in Zivil bis an die Tür zur Mixed Zone geführt. Das dauert.
Deshalb servieren Stephen, Ruud und Pieter (Namen von der Redaktion geändert) Kaffee und Getränke, um den Konzertbesuchern die Wartezeit zu verkürzen. Die drei kräftigen Mittdreißiger stehen hinter einem improvisierten Tresen und fordern die Leute freundlichen Blickes auf, näher zu treten. Anfangs tun dies nur wenige, schließlich handelt es bei den Männern, die hier „Patienten“ genannt werden, um verurteilte Mörder, Kinderschänder und Vergewaltiger mit ehemals hohem Gewaltpotenzial. Die drei schweren Jungs, die hier nach etlichen Jahren im Knast auf ihre Rückkehr nach draußen vorbereitet werden, sind die leichteren in „De Rooyse Wissel“. „Die Männer, die sich heute unter die Konzertbesucher mischen dürfen, sind schon relativ weit in ihrer Therapie“, erklärt Anstaltssprecher Stefan Wesseling, der jeden Besucher ermuntert, die Patienten anzusprechen, sie aber gleichzeitig eindringlich bittet, kein Gespräch über ihre Tat anzufangen.
Die Turnhalle ist rappelvoll. „Was haben die Leute eigentlich zahlen müssen, um hier reinzukommen?“ fragt Stephen flüsternd einen Kumpel, der neben ihm in der letzten Stuhlreihe Platz genommen hat. „Zehn Euro“, weiß der zu berichten. „Ach, so billig geht‘s auch“, witzelt Stephen, als Yingdi Sun die ersten Takte von Mozarts Sonate in C-Dur anschlägt. Der Flügel ist auf einer Bühne knapp zwei Meter unterhalb des Basketballkorbes aufgebaut. Die Finger des schmächtigen Pianisten im schwarzen Samtanzug fliegen bald über die Tasten, Sekundenbruchteile später changiert der Sieger des Franz-Liszt-Klavierwettbewerbs 2005 zu eher romantischen Tönen, um anschließend wieder in die Vollen zu gehen – das imponiert die gut 40 Patienten in den letzten Reihen. Anerkennendes Klatschen und Nicken in Richtung der Kumpels und Betreuerinnen der eigenen Abteilung auch nach Liszts Mephisto Walzer. Pause.
Der musikalische Totalangriff auf seine Sinne hat Stephen, der mit seiner Anstaltsband „Externalisation“ mittwochs eher Rock und Reggae probt, endgültig zum Klassikfan gemacht. „Der Junge ist so schnell, ich kann‘s einfach nicht glauben“, bewundert der Mann aus Curaçao die überragende Technik des 25-Jährigen. Und erzählt mit glänzenden Augen, wie er bei den Aufbauarbeiten für Yingdi Suns Konzert „das Klavier schon mal aufgewärmt“ habe.
Nicht alle Patienten kommen an diesem Nachmittag in den Genuss – manche, weil Yingdi Sun und Liszt sie bald langweilen, andere weil sie nicht durften. „Wir haben 108 Bewohner hier“, sagt Abteilungsleiter Ton Wijnen. „40 von ihnen befinden sich heute im Publikum, die anderen mussten wir in den geschlossenen Abteilungen lassen. Darunter sind richtig schwere Fälle, ein Zusammentreffen mit Besuchern oder dem Musiker können wir da nicht vertreten.“
Yingdi Suns furiose Interpretation von Liszts Ungarischer Rhapsodie lässt die „Knastphilharmonie“ vibrieren. Dann ist Schluss. Vereinzelt reden Besucher und Patienten beschwingt aufeinander ein und bewegen sich in Richtung Mixed Zone. Die Besucher bilden Fünfergruppen an der Tür zum Ausgang, die Patienten räumen auf oder verschwinden über die Treppe in ihre Abteilungen. Stephen findet‘s „super, dass die Menschen von draußen mal erfahren haben, wie‘s hier drinnen ist. Es glauben doch viele, dass wir alle gefährlich sind“, sagt der rundliche Mann im samtroten Hemd, der seit drei Jahren hier ist. „Das Konzert trägt dazu bei, Vorbehalte abzubauen“, ergänzt Abteilungsleiter Ton Wijnen. „Wir spüren, dass die Leute nach einer solchen Begegnung differenzierter über Resozialisierung und Knackis sprechen.“
Wie die meisten Konzertgänger kann das auch Charles Holla unterschreiben, er war schon im letzten Jahr im Frauenknast dabei. Gewöhnungsbedürftig sei es aber allemal. „In der Pause stand ich plötzlich allein mit einem von ihnen im Klo“, erzählt er. „Da war ich nicht ganz so entspannt.“