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Archiv-Artikel

Den Rucksack im Benz

Niemand verbindet Underground-Ethos so glaubwürdig mit Mainstream-Erfolg wie Kanye West. Mit „Graduation Day“ bringt der HipHop-Superstar nun den zweiten Teil seiner College-Trilogie heraus

Von Kanye Wests zahllosen Selbstzuschreibungen stimmt eben am meisten, dass er ein verdammt guter Entertainer ist

VON TIM STÜTTGEN

In den Neunzigern war es eine Nebendisziplin im US-Rap, ein eigentlich unbedeutender und dennoch würdevoller Titel am Rande: The best producer on the mic. Kleine und große Legenden wie Pete Rock, Diamond D, Madlib oder Jay Dee, deren Künste der Beatschusterei und Sample-Auswahl schon lange unbestritten waren, griffen nach dem Mikrofon, um die altmodisch- klassische Aufteilung von MC und DJ in einem Autoren zu manifestieren. Heute ist dieser Titel fast vergessen. Keiner scheint sich mehr um ihn zu scheren, keiner ihn mehr zu brauchen. Bis Kanye West kam.

Dass Kanye West Beats machen konnte, das wusste man. Als absoluter Nobody durften vier seiner Produktionen auf Jay-Zs Breitwand-Album „The Blueprint“ (2001) debütieren. Ihr Rezept war so einfach wie produktiv, so catchy wie platt. Man nehme ein paar Soulklassiker, die man in den Siebzigern bei seinen Eltern im Wohnzimmer gehört hatte oder gleich irgendeinen Song der Doors, arrangiere und loope seine funktionalsten Parts mit einem Drittel Geschwindigkeit mehr, dass die Vokalisten anfangen zu quietschen, lege mehr oder weniger bombastische Beats darunter und lasse den MC den Rest besorgen, damit das Teil zum Hit wird. Es wurde zum Hit, immer wieder. Szene-MCs wie die Dilated Peoples und Ludacris, Conscious-Rapper wie Talib Kweli und Common, Popstars wie Britney Spears, Madonna oder Alicia Keys können einen Hook davon singen.

Damit schrieb sich der heute 28-jährige Kanye langsam aber sich in die Top-Produzenten-Lounge, in der Mitglieder wie die Neptunes oder Timbaland abhängen und Champagner schlürfen. Dort ist es nämlich locker gang und gäbe, 200.000 Dollar für einen Beat zu verlangen. Schließlich hat man nicht nur das Spiel namens HipHop ästhetisch erweitert, sondern auch ein distinktives Popformat entwickelt, dem sich auch die weißen Mittelklassen-Kids nicht entziehen können.

Doch Kanye, dem nachgesagt wird, ein so extrem genialer wie exorbitant arroganter Schnösel zu sein, hatte noch lange nicht genug. Er wollte mindestens der best producer on the mic sein, wenn nicht noch mehr. Also sicherte er immer wieder die besten Beats für sich, kompilierte Demo-CDs und stand mit in den langen Reihen der Straßen-MCs und Möchtegern-Playas Schlange, um die A & Rs von den großen Labels zu begeistern. Doch den MC nahm ihm keiner ab. Eine für US-Rap-Verhältnisse unglamouröse Biografie als Middleclass-Kind einer Pädagogenfamilie, Mutter Professorin und Vater Lehrer, reicht bis heute in den Rängen der HipHop-Skala höchstens zum crediblen Conscious-Rapper oder Konsens-Popper, nicht aber zum Superstar.

Alte Helden wie De La Soul oder Community-Päpste wie KRS-One haben dementsprechend ihren letzten großen Hit Anfang der Neunziger gehabt. Abgesehen von den Partyrappern aus den Südstaaten scheffeln heute die Geschichtenerzähler, welche die alten Gangstermythen wiederentdecken, wie 50 Cent oder The Game die ganz große Kohle und den Respekt auf den Straßen, und natürlich Eminem, der diese Mythen auf die Sprechweisen und Provokationstechniken des weißen Enfant terrible übersetzte. Da ganz oben muss man schon einen neuen konzeptuellen Entwurf, eine eigene Legende und die richtigen Freunde am Start haben, um mitspielen zu dürfen.

Irgendwann hatte auch Kanye all das. Immer wieder nervte er seinen Meister und Mentor Jay-Z, bei dessen Plattenfirma Roc-A-Fella gesignt zu werden. Doch als Ende 2002 die Tinte des unterschriebenen Vertrags noch nicht mal getrocknet war, war seine Karriere dann schon fast wieder vorbei. Bei einem Autounfall verlor er fast das Leben, sein mehrfach gebrochener Kiefer musste mit Draht durchzogen werden, um ihn zusammenzuhalten.

Dieses Ereignis war so sinn- wie erfolgstiftend: West wandte sich Gott zu und verarbeitete die Erlebnisse in dem so religiösen wie selbstreflexiven Track „Through The Wire“, auf dem er lakonisch konstatierte: „I turned tragedy to triumph.“ Mit Unterstützung des Chaka-Khan-Disco-Klassikers „Through The Fire“ wurde nach hauseigenem Rezept ein Pophit generiert, der nach besten Regeln des HipHops Biografie zu Legende und gerappte Erzählung zum Meisterstück machte. Als wäre der Song schon Hit gewesen, blickt Kanye im Text verwundert auf die dramatischen Erlebnisse zurück, die ihm den Erfolg bescherten, der sich Monate später in der Chart-Wirklichkeit einstellen sollte. Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart verschwommen in dieser Narration: Die Dopplung des Chaka-Khan-Lieds mit den Raps Kanye Wests stelle ein Zeitkontinuum her, in dem die Geschichte des Souls und die Gegenwart des Raps miteinander in Interaktion trafen. Das Kollektive von Soul, Funk und Gospel treffen auf den aktuellen Ich-Erzähler, dessen Song in den besten Momenten gleichzeitig ebenso hochaktuell wie nostalgisch wirkt. Ab diesem Punkt hatte Kanye West also nicht nur seinen eigenen Mythos erschaffen, sondern auch seine Form gefunden. Diese schaffte er sogar wie selbstverständlich auf sein Debütalbum zu übertragen.

„College Dropout“ (2004) wurde von Grammys und Platinscheiben beregnet und kann als eines der wenigen Rap-Meisterwerke des neuen Jahrtausends bezeichnet werden. In einem von smarten Ideen und opulenten Arrangements, gezielt eingesetzten Gastauftritten und absurden Zwischenhörspielen überbordetem Konzeptalbum schuf der Hochschulabbrecher West in vielfach gebrochener, tragikomischer Weise eine verspielte Pop-Art-Welt seiner eigenen Biografie. Dass man nicht aus dem Ghetto kommt, bedeutet nämlich nicht, kein Opfer von Rassismus gewesen zu sein. Dass man Zugang zur Kunstschule hatte, auch nicht, dass man sich auf ihr aufgehoben fühlte. Also verließ der Protagonist des Albums die heiligen Räume der Akademie, um Rapper zu werden.

Der Rest ist längst Geschichte, die in einem irren Anflug von Größenwahn und Sprachspiel mit allen Regeln der Kunst erzählt wurde und dabei so manchen Dualismus aufweichte, der vorher die Lager der HipHop-Welt trennte. West ist der „first rapper with a Benz and a backpack“, wie er es einmal in einem Song formulierte. Respektiert bei den Players und Hitmakers, den Gangsters und Bootyshakers, aber auch bei den mit Rucksack bepackten Underground-Moralisten, den „Keep It Real“-Besserwissern und Politisch Korrekten. Dass zum Beispiel Jay-Z auf einem Track mit dem unbekannten Spoken-Word-Künstler Saul Williams auftreten würde, um von West in ein zehnminütiges Epos plus einem Gospelchor gebettet zu werden, war vor „College Dropout“ undenkbar.

Vielleicht ist es in diesen Dimensionen von Anerkennung und Erfolg im afroamerikanischen Kontext keine Überraschung, wenn Kanye West sich zur Veröffentlichung seines zweiten Albums so locker wie dreist in einer Reihe mit Stevie Wonder und Quincey Jones, den Rolling Stones und den Beatles sieht. Ausgestattet mit eigener Schmuckfirma und eigenem Plattenlabel, zahlreichen Hits und Referenzen quer durch alle Lager der HipHop-Welt scheint es für West nur noch eine Frage der ersten paar Durchläufe seines just erschienenem Album „Graduation Day“ (Universal) zu sein, dass die Welt ihn endgültig zum König ernennt. „Graduation Day“ soll alles beweisen und zusammenführen, alles übertrumpfen und selbst die Zweifler zum Schweigen bringen, die dem selbstherrlichen Modefreak mit dem schiefen Kiefer immer noch das Talent zum großen MC absprechen. Dafür hat West sein Konzept zugespitzt, noch mehr Hits der Soul- und Funkgeschichte gesampelt, seine College-Geschichte weitererzählt, sich weitere Musiker und das erste Mal auch Songwriting- und Produktionsassistenten ins Boot geholt.

Dass das Album an seinen eigenen Ansprüchen scheitert, ist bei Wests Ansprüchen eigentlich keine Überraschung. Wenn er auf dem offensichtlichem Soulpower-Vehikel „Touch The Sky“ offensichtliche Reime über noch offensichtlichere Samples von Curtis Mayfields „Move On Up“ rappt, funktioniert das natürlich tadellos, aber erinnert in seiner Transparenz eher an die billigen Popsong-Remakes eines Puff Daddy als an eine neue Vermählung von klassischer Black-Music-Deepness und kontemporären HipHop-Hit.

Auch seine erste Single, „Diamonds From Sierra Leone“, vertraut auf das gleiche Rezept, eignet sich Shirley Basseys James-Bond-Hymne an und schafft gerade noch mal, nicht unter dem Bombast zusammenzubrechen. Doch es wäre unfair, West auf das Rezept seiner Produktionspraxis zu begrenzen. Gerade die kleinen Stücke, welche nicht gleichzeitig großes Epos, veritable Konsens-Burner und feister Rap-Klassiker werden wollen, sprühen immer noch so vor cleveren Reimen und konsistenten Ideen, wie sie sonst nur Künstler hinbekommen, die schon die ersten zehn Jahre im Geschäft hinter sich haben. Die genialen Momente finden sich immer wieder, manchmal am Rande, manchmal auch im Zentrum von „Graduation Day“, auf dem immer noch so viele unterhaltsame Geschichten erzählt und Beats gekickt werden, dass sie bei der Konkurrenz mehrere Alben füllen würden. Von all den Selbstzuschreibungen stimmt eben am meisten, dass West einfach ein verdammt guter Entertainer ist.

Doch die große Erzählung des freaky College-Kids, der Spagat zwischen selbstgefälligem Repräsentieren im Rap-Game und rührseligem Lamentieren für die Mama im Krankenhaus, die Lust an Autos und Klunkern neben moralischen Geschichten über den Diamantenhandel in Afrika ist ihm in diesem Albumkomplex nur schwer abzunehmen. Deswegen weiß man auch dieses Mal nicht, was man von diesem ambivalenten Ich-Erzähler des zweiten Teils der College-Trilogie halten soll, wenn er sich zurück in die Schule begibt. Er ist zu alt oder zu arrogant, um dort noch etwas zu lernen, und zu jung, um schon alles einzulösen, was er sich auferlegt hat. Ein Popstar ist er geworden, der best producer on the mic aber nicht.