: Jimi Hendrix las in ihren Gedanken
ERINNERUNG Die Schriftstellerin Lily Brett durchlebt mit ihrem Alter Ego „Lola Bensky“ noch einmal die 60er Jahre
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Auf Seite 153 betreten Harry und Schlomo die Bühne. Sie betreiben „Das ultraprivate Detektivbüro“ in New York, spezialisiert auf Scheidungen. Harry ist gut im Internet, Schlomo in der Observation. Und das, obwohl er, ein übergewichtiger orthodoxer Jude, mit Kippa, Schläfenlocken und stets einem großem Regenschirm ausgestattet, durchaus keine unauffällige Figur ist.
Was klingt wie das Personal einer neuen Sitcom, ist der Start einer erfolgreichen Krimiserie der Schriftstellerin Lola Bensky, der Titelfigur des neuen Romans der New Yorker Autorin Lily Brett. Lola Bensky ist sehr erfolgreich mit ihrem Buch, zu ihrer eigenen Überraschung. „Lola hatte keine Ahnung, wer es kaufte. Wahrscheinlich Leute, die genauso wenig über Kriminalromane wussten wie sie.“
Furcht vor Galadinners
In etwas erfolgreich zu sein, von dem sie keine Ahnung hat; überrascht zu werden von der positiven Reaktion anderer auf sie – das macht den Charme von Lola Bensky aus. Eigentlich sieht sie sich selbst als jemand, der, von Ängsten und Zweifeln gepeinigt, gar nicht vom Fleck kommen kann – und dann doch mit erstaunlich großen Schritten auf die Welt zugeht.
„Das ultraprivate Detektivbüro“ hat dabei durchaus die Funktion eines Comic Relief. Wenn Lola diese Figuren entwickelt, schlüpft Lily Brett für ein paar Seiten in Lolas Feder und malt skurrile Szenen aus. Aber das geschieht nie unmittelbar, sondern stets vor oder nach etwas anderem, vor dem sie sich fürchtet, etwa einem Galadinner. Panikattacken sind Lolas Problem in ihren mittleren Jahren.
Kneifende Blusenärmel und zwickende Strumpfhosen sind ihr Problem, als sie, noch keine zwanzig, von Australien aufbricht, um für ein frisch gegründetes Rockmagazin Musiker zu interviewen. Der Roman setzt ein, als sie Jimi Hendrix auf einem Barhocker in London gegenübersitzt. Bei jeder Frage, die sie ihm stellt, nehmen wir teil am Fluss ihrer Gedanken, die ständig zurückkehren zu ihrer Geburt in einem Lager für Displaced Persons 1946 in Bayern, zu den im Holocaust ermordeten Verwandten ihrer Eltern, dem Unverständnis ihrer Mutter über die vielen Pfunde ihrer Tochter. Und was geschieht? Jimi Hendrix antwortet auf ihre Fragen so sensibel, als könnte er in ihren Gedanken lesen wie in einem offenen Buch.
Und so geht es ihr mit vielen der Musiker – mit Janis Joplin, Mama Cass oder Mick Jagger. Sie kümmern sich um Lola, reagieren mit Bestürzung auf ihre Geschichten aus den Konzentrationslagern. Weil Lola sich von der eigenen Mutter abgelehnt fühlt, fragt sie alle Interviewpartner nach ihren Eltern.
Was mit Janis Joplin oder Jimi Hendrix im Moment ihres Auftritts geschieht, auch auf dem legendären Festival von Monterey 1967, ist eine Verwandlung, die Lola eher ängstigt, zu radikal, zu sexy, zu unbedingt. Doch in den Gesprächen werden sie zu teilnehmenden Freunden. Und das war das Beste, was Lola Bensky passieren konnte.
„Lola war mit Toten aufgewachsen. Sie versuchte, sich von ihnen fernzuhalten.“ Das steht am Ende des Buchs, doch von Anfang an grundieren solche Sätze ihre Geschichte, die Schulzeit in Australien, ihre Zeit als Rockstar-Reporterin, die Episode bleibt, ihre erste Ehe in Australien, ihre zweite Karriere als Schriftstellerin in New York. Es sind die Toten des Holocaust, die nie verschwinden; ein Refrain, den Lola nicht loswird. Im letzten Kapitel kommt eine zweite Liste von Toten hinzu, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Otis Redding stehen darauf. Und Lillian Roxon, wie Lola Bensky eine Tochter von Holocaust-Überlebenden. Sie war Lolas Freundin und Kollegin während ihrer Zeit als Rockreporterin, und sie schrieb das erste Rocklexikon der Welt.
Und Lillian Roxon war Lily Bretts Freundin bei deren erstem Aufbruch nach New York. Es ist schwer, Lily Brett und Lola Bensky nicht zu verwechseln. Sie teilen alle biografischen Stationen. „Lola Bensky“ ist der fünfte biografisch grundierte Roman von Lily Brett, die 1995 mit „Just like that“ („Einfach so“) bekannt wurde. Aber erst in „Lola Bensky“ öffnet sie ein Fenster in die sechziger Jahre; vielleicht weil ihr der Mensch, der sie damals war, in all seiner Naivität, mit all seiner Besessenheit von Ernährungsfragen peinlich geworden war. „Lola hatte keine Zeit, traurig zu sein. Sie war zu sehr damit beschäftigt, fröhlich zu sein, oder ihre Interviews zu planen oder über Essen nachzudenken“, so sieht Lily auf Lola. Wissend, dass die Traurigkeit immer schon da war, versteckt womöglich im Babyspeck.
■ Lily Brett: „Lola Bensky“. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Heinrich. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 302 Seiten, 19,95 Euro