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Archiv-Artikel

Wespen im Reich des Durchschnitts

Das Theater Osnabrück startete am Wochenende mit dem Festival „Spieltriebe“ in die neue Spielzeit: Zwölf Ur- und Erstaufführungen stemmte das Haus, zu sehen in drei sechstündigen Programmen. Dabei sollten Visionen deutlich werden – sowohl für Osnabrück als auch für das zeitgenössische Theater

von Denis Bühler

Über dem Treiben in der Osnabrücker Fußgängerzone spannt sich das Banner des „Spieltriebe“- Festivals. Gelb und Schwarz, Wespenfarben, Atomkraftfarben – „Achtung, aufgepasst!“ Auch über den Boden des Foyers im Theater am Domhof zieht sich ein Wespensicherheitsband, wie auf dem Flugplatz die Streifen auf der Landebahn. Passend dazu ein Trupp junger Stewardessen, die als „Visionsbegleiterinnen“ die Aufgabe haben, die Besucher durchs Festival von Vorstellung zu Vorstellung zu lotsen.

Insgesamt zwölf Ur- und Erstaufführungen an acht Spielstätten wurden am vergangenen Wochenende gezeigt, aufgeteilt in drei Routen von jeweils sechs Stunden Dauer. Ein Theatermarathon, der Osnabrück zu einem Zentrum für zeitgenössisches Theater machen soll: Intendant Holger Schultze möchte zeigen, dass „auch mittelgroße Häuser innovativ sein können.“ Das Festival zum Spielzeitauftakt markiert den Beginn der Intendanz von Schultze, der viel vor hat mit der Stadt an der Hase. „Visionen für Osnabrück“ soll das Festival liefern – zunächst aber ist erstmal gesichert, dass alle Aufführungen weiter im Spielplan bleiben.

Phantasie am Start

Es ist 17 Uhr, die Stewardessen weisen den Weg in Richtung des großen Saales. Dort startet das Festivalprogramm mit Gert Jonkes „Chorphantasie“. Das Stück ist geteilt in zwei Abschnitte, einer kommt zu Beginn, einer am Ende des Abends. Es ist das einzige Stück, das alle Besucher sehen, egal welche Route sie wählen. Damit erhält die „Chorphantasie“ Mottocharakter.

Der Saal ist brechend voll. Irgendwann tritt ein Mann auf, dessen Frisur an Simon Rattle erinnert. Die Bühne selbst ist mit Notenpulten verstellt, aber: keine Musiker weit und breit. Also beginnt der Dirigent, das Publikum zu dirigieren.

Und so geht das dann zwei Sätze lang. „Einhorchen, aushorchen – passen sie gefälligst besser auf“, treibt Oliver Meskendahl in der Rolle des Dirigenten an. Die Interaktion mit dem Publikum erntet Lacher, Charlotte Koppenhöfers Inszenierung hat etwas komödiantisches. Hinter der Dirigentenkomödie verschwinden jedoch die Chorpassagen: Die hätten die Funktion gehabt, die absurde Komödie zu brechen und die Handlung mit ernstem Impetus zu kommentieren, werden aber völlig übertüncht. Als hätte man nicht richtig gewusst, wohin damit.

Bürgerliche Visionen

Aber zum Nachgrübeln bleibt kaum Zeit, es geht weiter, nächstes Stück. Die Stewardessen führen an den grauen Betonwänden vorbei durch die Garderoben der Schauspieler, hinter den vielen Lämpchen der Techniker lang. Der Weg ist gesäumt von lebenden Installationen. „Urlaub“ etwa: eine Frau, die in einem Stapel Bücher nach dem Lanzarote-Guide wühlt. Oder „Schlafen“: die Hospitantin, die auf einem überdimensionalem roten Sofa döst. Man erinnert sich an den Untertitel des Festivals: „Visionen für Osnabrück“. Sehr bürgerlich sind sie, diese Visionen.

Außerdem gibt‘s Visionen zum Mitnehmen, die auf gelben Zetteln an den Wänden kleben. „Osnabrück wird Dialogstadt: Ich wünsche mir eine Entghettoisierung“, schreibt Tanja, 24. Ein junger Musiker verlangt, Osnabrück solle endlich zu seiner Durchschnittlichkeit stehen. Man nimmt‘s überrascht zur Kenntnis und nähert sich dem Ballettsaal.

Zu Hause bei Terrormum

Die Uraufführung von Nora Mansmanns „Terrormum“. Es beeindruckt die Bühne von Simone Wildt. Drei Rollwände, die von den Schauspielern bewegt werden können und je nach Licht – mal Orange, mal kaltes Blau – den Charakter der Bühne völlig verändern. Hier wird das Schicksal von Dennis gespielt, einem jungen Versager, dem die mangelnde Fürsorge seines kiffenden Vaters das Leben versaut. Es wird Musik eingespielt vom sechziger Jahre Plattenspieler, geschrien, gevögelt – die Berliner Volksbühne lässt grüßen. Am Ende wirken auch die Bemühten unter den Zuschauern eher unwillig als verklärt.

Haltlose Spielregeln

Danach geht‘s weiter durch die Katakomben. Es braucht einige Zeit zu realisieren, dass wir uns unter der Hauptbühne befinden. Kabel und Aufzuggerätschaften hängen von den Wänden, warm beleuchtet in der Mitte ein Kreis, in dem sechs Männer und Frauen zu Elektro-Jazz Collagen tanzen: die Uraufführung „Spielregeln“ des Tanzensembles. Man drängt sich an die Absperrung. Eine Frau und ein Mann beginnen, sich eine tänzerische Auseinandersetzung zu liefern. Eine Choreografie aus ständigem Halten und Stoßen, Anschmiegen und Abwenden, die in Atem hält.

Stattliche Lavinia

Die Bühne hinter der Hauptbühne, hier nun André Werners Kammeroper „Lavinia A.“ nach Shakespeares Titus Andronicus. Auf der Bühne Orchester und Chor, am vorderen Bühnenrand vier Särge. Tamora ist as bad as can be, das macht Freude. Die Gesangspartien des Titus wirken etwas schwach, wenn er entdeckt, dass seine Tochter geschändet wurde – Verzweiflung ist das nicht. Aber dass das seine Tochter ist, sieht man auch nicht auf den ersten Blick. Statt eines zarten Mädchens liegt da nämlich eine stattliche Frau.

Lange Sekunde dazwischen

Vorläufiger Abschluss des Marathons ist dann Andreas Sauters „Sekunde dazwischen“. Das von Daniel Libeskind entworfene Felix-Nussbaum-Museum ist schnell gefunden. Man gibt im Foyer seine Taschen ab und betritt einen Raum mit Gemälden des Namensgebers. Schauspieler Steffen Kretzschmar berichtet da ziemlich langatmig von seinen Erfahrungen mit dem Tod. Ein fast einstündiger Monolog, ohne inszenatorische Ideen. Gegen Ende ist zu spüren, wie die Zuschauer sich anspannen. Als der Erzähler vom Tod seiner eigenen Großmutter berichtet, übernimmt der Text selbst die Regie und treibt hier und da Tränen in die Augen.

Phantasie am Ende

Nun zurück, zum letzten Teil der Chorphantasie, dann ist der Theatermarathon geschafft. Fünf Stücke in sechs Stunden hinterlassen ihre Spuren. Man ist müde, aber gut gelaunt. Erstaunlich gut gelaunt.

Das Licht geht aus, inzwischen sind die Orchestermusiker auf der Bühne erschienen, fordern vom Dirigenten ihr Gehalt. Jonkes Groteske schließt damit, dass der Dirigent und seine Mitverschwörer im Hubschrauber fliehen. Aber diese Parodie auf die beethovensche Chorfantasie mit ihrem Verbrüderungsgedanken wird in Charlotte Koppenhöfers Inszenierung zurückgenommen. Hier wird plötzlich der wirklich Dirigent des Osnabrücker Orchesters von der Decke herabgelassen, mit Fliegerbrille und Taktstab. Und dann wird das große Finale des beethovenschen Werkes gespielt. Jonkes Ironie wird überlesen zugunsten des Effektes. Oder ist das die Vision, die den Abend trägt?

Trotzdem: Das Spieltriebe-Festival ist gelungen, da das Theater gezeigt hat, dass es in allen Sparten auf hohem Niveau arbeitet. Echte Visionen aber blieben sowohl für die Stadt als auch für das Theater aus.