: Mutter Beimer aus dem All
Auf der Wahlparty des Goethe-Instituts in New York: Deutschland hat gewählt
Neulich beim Einkaufen, zwei Tage vor der Deutschland-Wahl. Bei Fairway auf dem Broadway und 74th Street tobt die übliche Freitagnachmittagsschlacht um Gemüse, Fleisch und Matzeball-Soup, und selbst frühes Kommen sichert keine besten Plätze. Im Gedränge der Nationen kämpft jeder für sich und allein gegen alle. Eine der typischen, zerbrechlich wirkenden, aber innerlich stahlharten jüdischen Upper-West-Side-Omis verlangt mit charmanter Hartnäckigkeit nach einem einzigen Scheibchen Lachs („Is it frrresh!?“) und hält den Betrieb am Deli-Tresen auf; Latina-Kindermädchen rammen mir Kinderwagen in die Fersen, die ihnen anvertrauten Kleinen bringen Fruchttürme zum Einsturz, und über den Lärm an den 20 Kassen hinweg brüllen sich die jungen Typen aus Afrika und der Karibik, die beim Einpacken helfen, die letzten Fußballergebnisse ihrer Heimatmannschaften zu.
Ich stehe mit meinem Sohn im Getümmel und bespreche auf Deutsch die Haushaltslage – Fisch oder Fleisch, Reis oder Pasta? Und hast du eigentlich deinen Wahlzettel abgeschickt? – da ertönt neben mir ein tiefer Seufzer. „Nein, ist das schön, endlich mal wieder Deutsch zu hören!“ Wir blicken ins von Schweißperlen bedeckte Gesicht eines Mannes Mitte 30 mit schütterem Haarwuchs, der sich unentschlossen an einem Sixpack Marke „St. Pauli Mädel“ festhält. Er sieht uns dankbar an, und ich empfinde Mitleid. Es ist ja auch nicht leicht, so in der Fremde, wo er sich, scheint’s, schon sehr lange und ohne den Trost heimatlicher Laute aufhält. „Ja“, nicke ich verständnisvoll, „wie lange sind Sie denn schon hier?“ – „Seit gestern“, stöhnt er und wischt sich über die Stirn. Draußen brütet die Stadt unter dampfenden 30 Grad.
„Ja, das muss hart sein. Und in Deutschland ist bestimmt schon Herbst“, meldet sich der Sohn erbarmungslos. „Und Sie?“, wendet sich der Schwitzende an mich. „Was?“ – „Wie lange sind Sie denn schon da?“ – „Zehn Jahre.“ – „O …“ Das muss erst mal sacken. Dann: „Ja, mit Schulenglisch kommt man ja nicht weit, ne?“, erwidert er fröhlich. Darüber habe ich auch schon nachgedacht, seit mich aus der Heimat die Nachricht erreichte, dass „Angie“ zum Wahlkampfsong der CDU mutiert war. „Oh, Angie, don’t you weep, all your kisses still taste sweet“? Astreines Wahlprogramm, Sex im Wahlkampf, Englisch muss erste Fremdsprache bleiben!
„Was heißt denn ‚Wo‘ “?, holt mich der Schwitzende in die Wirklichkeit zurück. „Wo?“ – „Ja, auf Englisch.“ – „Ach so. ‚Where‘. Was suchen Sie denn?“ – „Na ja, wo ist denn hier die Butter?“ Fairway ist, wie ganz New York, ein Ort ständigen Wandels, weshalb auch nach zehn Jahren kein Verlass ist aufs Butterregal. Wir wedeln in eine unbestimmte Richtung und treten den Rückzug an. Der Verlorene streckt uns wie Kaspar Hauser anklagend ein „St. Pauli Mädel“ entgegen. „Kann man die auch einzeln kaufen?“, ruft er uns nach.
Deutschland muss sparen. Weshalb ich mich heute, am Wahltag, auf die Suche nach dem Ergebnis des Wählerwillens mache. Im Goethe-Institut an der Fifth Avenue werde ich fündig. Vor mehreren Fernsehschirmen stauen sich versprengte Bundesbürger, Journalistenfreunde, grämlich dreinschauende Konsulatsangestellte und die unvermeidlichen Deutsche-Bank-Praktikanten im Westerwelle-Look. Eine Stunde lang lassen wir Hochrechnungen und Demografengefasel über uns ergehen, und dann, als Angies Kurve langsam einknickt und die Sache spannend wird, plötzlich … – „Die Lindenstraße“. Wir drücken auf Knöpfe, zupfen an Kabeln, ohne Erfolg. „German TV“, klärt uns ein fürsorglicher Konsulatsangestellter auf. Ach? Wir erfahren von einer „Satellitenplattform, die sonst keiner hat“, der deutsche Auslandssender schwebt sozusagen allein im All, völlig losgelöst von allen übrigen Systemen, und darf deshalb bei der großen New Yorker Kabelgesellschaft nicht mitspielen. Daher kein durchgehendes Heimatprogramm. Ein typisch deutscher Sonderweg.
„Ist das jetzt so wie bei der Maut, wo auch nix zusammengepasst hat?“ Der Konsulatsangestellte betrachtet mich mit Misstrauen, mein technischer Verstand ist zugegebenermaßen begrenzt. „Stellen Sie sich mal vor, was das fürs deutsche Bild im Ausland bedeutet“, stöhnt er, „was die Franzosen inzwischen alles machen!“ Ja, was? „Wer ist denn für das Programm verantwortlich?“, frage ich streng. „ARD, ZDF und die Deutsche Welle. Dabei gibt’s den Kanal schon gar nicht mehr. Wird eingestellt.“ Wir sehen also ein Programm, das Lichtjahre entfernt aus dem All zu uns kommt, ein Stern, gewissermaßen schon verglüht, aber immer noch sendend, „Lindenstraße“ statt Kanzleramt, aus der Konserve, virtuelles Programm, virtuelle Hochrechnungen und, dürfen wir hoffen, virtuelle Wahlen? „Oh, Angie, all the dreams we held so close seemed to all go up in smoke …“
„Ja“, sagt Herr Schmidt, Leiter des Pressereferats im Generalkonsulat, „Regierungen kommen und gehen, aber die ‚Lindenstraße‘ bleibt.“ Mutter Beimer for Kanzler.
PIA FRANKENBERG